Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Vollzeitmann

Titel: Der Vollzeitmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Achilles
Vom Netzwerk:
Samos.
    Martin begann zu erzählen von Sokrates’ Mäeutik, der von ihm entwickelten Methode eines philosophischen Dialogs,
von seinem Schüler Platon und wiederum dessen berühmtem Schüler Aristoteles.
    Martin hatte kaum Geld, aber Unmengen an Begeisterung für die Geistesriesen der Antike. Er rollte seinen Schlafsack immer in der Nähe historischer Stätten aus, an der Akropolis, wo Sokrates als junger Bildhauer eine Figurengruppe gestaltet haben soll, am Hafen von Pythagorio, am Palast der Minoer in Knossos. Er wollte seinen Idolen nah sein. »Ich bin ein Philosophen-Groupie«, sagte er lachend über sich. Ein Stück Käse, ein Kanten Brot, eine Flasche stilles Wasser von Zagori und einen seiner vielen Reclam-Bände - mehr brauchte Martin nicht, um glücklich zu sein. Er träumte davon, eines Tages das Werk der Klassiker fortzuschreiben. Dorothea verliebte sich in diesen hageren Jungen, dem das Denken alles und Besitz praktisch nichts bedeutete. Dieser anspruchslose Mann sollte jene zweite Hälfte Gen-Material beisteuern, die ihre Kinder zu einem größeren Ganzen machen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben entdeckte sie eine Lebensleichtigkeit, die ihr der Vermögensverwalter ihrer Familie immer nur versprochen hatte.
    Ihre Mutter hätte gern einen Adeligen als Schwiegersohn gehabt, ihr Vater gern einen eiskalten Juristen, der sich hauptberuflich um die Verteidigung des Reichtums kümmerte. Aber Martin und Dorothea beschlossen, das coolste Paar der Hauptstadt zu werden.
    Das Projekt war seither ein wenig ins Stocken geraten. Dorothea hatte zwar einen Job beim Fernsehen, aber über den täglichen Börsenbericht war sie seit Jahren nicht hinausgekommen. Sie hätte eine Verbraucher-Sendung im lokalen Fernsehen moderieren können, aber da hätte sie am Ende auch wieder Wochenmarktpreise aufgesagt. Eine halbwegs sexy Frau zu sein, reichte eben doch nicht, und die Männer waren auch nicht immer schuld.

    Dorotheas Selbstbild war in Gefahr, das sie aus Versatzstücken von Desperate Housewives, Amy Winehouse und Barbara Schöneberger zusammengesampelt hatte und dessen Kern in dem Glauben bestand, dass man als moderne Frau alles bekäme, wenn man nur wollte. Und damit wankte auch Martins Rolle.
    Solange Dorothea das Gefühl hatte, die Starke in ihrer Beziehung zu sein, war alles klar. Wenn er sie aber nun überholte, trotz Elternzeit, würde ihr ganzes Beziehungskonstrukt wanken, das auf dem Mythos der Karrierefrau aufgebaut war. Martin hatte keine Probleme, so zu tun, als habe er die Hundeschule mit Prädikat absolviert und gehorche ihr einfach gern. Er war Darsteller ihrer Nummern-Revue. Dafür war sie eine Erbin. Sie war Putin, er Medwedjew. Oder Chodorkowskij.
    Aber die Gefängnismauern weichten auf. Denn parallel zu Dorotheas beruflichem Stillstand schritt seine Karriere unaufhaltsam voran. Martin war in einer der größten PR-Agenturen der Hauptstadt gelandet, die die wichtigsten Ministerien, Unternehmen, Organisationen des Landes beriet. »Martin, Sie sind unersetzlich«, hatte ihm einer der drei Chefs erst auf der letzten Weihnachtsfeier gestanden, wenn auch erst nach dem fünften Hektoliter Glühwein. »Warum?«, hatte Martin schweinisch devot gefragt.
    »Weil alle unseren Laden für schlauer halten, als er ist, vor allem aber für moralisch hochstehender als die Konkurrenz«, hatte er erklärt: »Sobald ich bei einer Präsentation erwähne, dass ein promovierter Philosoph in unserem Team ist, gewinnen wir jeden Job. Die üblichen Zahlendreher und Kreativ-Pinsel hat ja jeder - aber wir haben einen Denker mit Ethik-Turbo.«
    Martin wusste genau, was der Chef meinte. Die klassische Berliner Agentur arbeitete nach dem Randgruppen-Prinzip:
Ost-Leben alleine reichte allerdings nicht mehr. Mandys und Kevins gab es genug. Wenn aber jemand Frau war, mindestens Türkin, besser Kurdin, am besten aber Israelin, Palästinenserin oder Iranerin, wer Gewalt- oder Drogengeschichten in der entferntesten Verwandtschaft vorzuweisen hatte, bevorzugt Ehrenmord, zur Not auch Diskriminierung allgemein, wer diese Umstände zu einem aufwühlenden Buch verarbeitet hatte und dann noch einen Hauch von Sex mitlieferte, der brauchte nur noch maximal zehn Prozent Talent für einen Job im halbwegs sicheren Mittelbau. Wissen konnte man sich besorgen, durch Lektüre von Neon und Werben & Verkaufen . Als Philosoph mit Prädikat konnte man noch halbwegs dagegen halten.
    Martin war sich bis heute nicht im Klaren darüber, ob er sich freuen sollte

Weitere Kostenlose Bücher