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Der Vollzeitmann

Titel: Der Vollzeitmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Achilles
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der Nase hatte. In der Champions League des Lebens zählte jede Kleinigkeit. Der Spiegel war ziemlich brutal in seiner Detailversessenheit. Man sah alles, die kleinsten Falten, die durch die Abführerei noch eine Spur tiefer eingegraben zu sein schienen. Reife war okay, aber nicht Verschleiß.
    Attila drehte den Spiegel weg. Sah er verschlissen aus? Er musste das genau beobachten. Es gab inzwischen sehr wirkungsvolle kleine Eingriffe an Hals und Wangen, mit denen man optisch zehn Jahre gewann. Im Urlaub würde Attila mal einen Schuss Botox probieren. Sah ja niemand, wenn sein Gesicht für ein paar Tage gelähmt sein sollte. Die Frage war, ob er telefonieren könnte oder einfach nur vor sich hinsabbern würde?
    »Das war ja einer der fundamentalen Unterschiede zwischen Mann und Frau: Männer duschten immer eine Spur zu kalt, sie wollten ihre Grenzen testen. Frauen dagegen stellten das Wasser immer eine Idee zu warm.«

    Letztes Jahr hatte er im Urlaub Viagra ausprobiert. Die zwei Tage Dauerlatte waren nicht besonders angenehm gewesen, schon gar nicht in den Shorts und nicht mal für Camille, aber jetzt wusste er wenigstens, wie das Zeug funktionierte. Im Ernstfall würde eine halbe Pille allemal reichen - gut zu wissen.
    Attila überlegte, ob er für seinen großen Auftritt heute Nacht nicht noch rasch eine dieser rautenförmigen Standhilfen besorgen sollte. Was wäre, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, ausgerechnet um 1:59 Uhr MEZ von einer unerklärlichen Lendenschwäche befallen sein würde. Das Viagra würde ihm zwar wieder einen anhaltenden Ständer bescheren, den er morgen wahrscheinlich noch mit ins Büro nehmen müsste. Das ließe sich mit einem strammen Slip und einer weiten Anzughose aber halbwegs kaschieren. In den entscheidenden Minuten würde er aber auf jeden Fall bereitstehen. Er würde den Professor fragen.
    Über die neuesten Errungenschaften der kosmetischen Industrie hielt Attila sich stets auf dem Laufenden. Zum einen war das ein boomender Zukunftsmarkt. Immer mehr Rentner mit immer mehr liquiden Mitteln wollten immer jünger aussehen, ohne sich besonders dafür anzustrengen. Zum anderen hatte er überhaupt keine Hemmungen, derlei Eingriffe an sich selbst vornehmen zu lassen.
    Es musste ja nicht gleich eine Herztransplantation sein. Aber hängende Lider und faltige Hinterbacken würde er schon gern an einem Wochenende loswerden. Bei der Gelegenheit könnte er sich auch gleich Fett absaugen und ein Sixpack-Implantat einbauen lassen, dazu noch ein paar
Haarbüschel auf die lichte Stirn und meinetwegen sogar eine Penispumpe. Wo war das Problem? Im Laufe eines Flugzeuglebens wurden alle Teile mindestens einmal ausgetauscht. Von dem ursprünglichen Flieger war nach zwei Jahrzehnten keine einzige Schraube mehr vorhanden. Formel-1-Wagen wurden sogar jedes Jahr komplett neu gebaut.
    »Wenn Männer als Opfer geboren wären, könnten sie auch gleich Frauen sein.«
    Der menschliche Körper war genetisch nun mal für nicht mehr als fünfzig Jahre ausgelegt. Folglich musste er eines Tages eben rundum erneuert werden: neue Gelenke, neue Organe, das war normal, aber kein Leid. Attila hasste nichts mehr als Senioren, die sich den ganzen Tag ihre Opfer-Geschichten erzählten. Wenn Männer als Opfer geboren wären, könnten sie auch gleich Frauen sein.

    Martin dachte nach: Ein Besuch bei Harry wollte gut vorbereitet sein. Harry war der führende Wein-Guru der Stadt; in seinem kleinen, unauffälligen Laden trafen sich alle, die wirklich was zu sagen hatten in Berlin, und dann noch Werber, PR-Götter und Unternehmensberater. Man beachtete sich scheinbar beiläufig, aber in Wirklichkeit wurde jedes Signal des sozialen Status’ gescannt. Klamotte, Schuhe, Weinwissen, Kreditkarte, Autoschlüssel - wer war wirklich reich, wer war wirklich originell, wer kannte sich aus, wer blendete nur vor sich hin? Schon mal eine gute Aufwärmübung für die Agentur.

    Martin hatte sein Ego-Marketing vor zwei Jahren radikal umgestellt. Eine schonungslose Selbstanalyse hatte ergeben, dass er zu viele, zu widersprüchliche Botschaften mit seinem Äußeren aussandte. Was wollte er wirklich? Es hatte lange gedauert, bis er sich eingestanden hatte, worum es ihm tatsächlich ging: Nein, er wollte nicht für einen durchschnittlichen Agentur-Heini gehalten werden. Ja, er war klüger als diese Pappenheimer. Das Problem war: Nahezu alle Agentur-Menschen hielten sich für besser als ihre Kollegen.
    Martin hatte die Brille als

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