Der Vollzeitmann
Botschafterin seiner Kernkompetenzen ermittelt. Jahrelang hatte er das weit verbreitete Wim-Wenders-Modell getragen, sich inzwischen aber noch weiter differenziert, Richtung Le Corbusier mit einem Hauch Bert Brecht. Es war sozialkritischer, gesellschaftlich schwerwiegender als zum Beispiel das Ray-Ban-Pilotenmodell, das Stefan Aust seit Jahrzehnten trug, egal, wie die Trends gerade waren. Aust hatte es vorgemacht: die Brille als Markenzeichen, als Körperteil, eine Lebensentscheidung, die mit den Jahren zeitlose Weisheit signalisierte. Wer Moden mitmachte, war ja nicht cool, sondern Mitläufer, Mitmacher, Nachmacher. Hatte Andreas Baader jemals etwas nachgemacht? Martin wusste es nicht so genau. Aber er dachte mal, eher nicht. Er hatte durch alte RAF-Bilder gegoogelt. Andreas Baader war sein heimliches Idol. Der hatte sich um nichts geschert, sein eigenes Leben schon gar nicht. Der war wirklich radikal gewesen. Hatte Andreas Baader jemals eine Brille? Nee, nur Sonnenbrille. Andreas Baader fuhr dafür einen Iso Rivolta. Martin hatte sich, auch aus Kostengründen, für eine total individuelle Brille entschieden, die aber auf keinen Fall zwanghafte Originalität versprühen durfte, weil sie aus Büroklammern oder Zahnarztbesteck gebastelt oder einfach nur lila war.
Es hatte einige Überwindung gekostet, dieses rabenschwarze Gestell auf die Nase zu setzen, das aussah wie eine Brezel in Klavierlack. Aber er hatte endlich sein Markenzeichen gefunden. Dorothea gefiel das Modell auch, sagte sie jedenfalls. Die Frage, ob Männer mit ausgefallenen Brillen im Erotik-Ranking der Frauen ganz weit oben rangierten, hatte sich Martin vorsichtshalber noch nicht gestellt.
Martin rückte die Brille zurecht, als er Harrys Weinladen betrat. »Bordeaux, Bordeaux, Bordeaux.« Die Kommandos seiner Frau klangen ihm in den Ohren. Was sollte Holtkötter eigentlich denken, wenn am Ende des Abends leere Pullen im Wert von vierhundertfünfzig Euro auf dem Tisch standen. Etwas snobby, oder? Egal. Besser als Discounter-Plörre. Das Problem war, dass Dorothea kein Verhältnis zu Geld hatte. Es war ja immer genug da. Neues Auto? Klar, kommt sofort. Welches hättest du denn gern? Größere Wohnung? Finde ich auch. Am besten mit Dachterrasse. Die kaufen wir. Aber erst noch umbauen lassen. Wein? Kostet hundert Euro die Flasche. Na und. Hol gleich zwölf.
»Die Frage, ob Männer mit ausgefallenen Brillen im Erotik-Ranking der Frauen ganz weit oben rangierten, hatte er sich noch nicht gestellt.«
Es war Vorteil und Fluch zugleich, dass man Dorothea mit den täglichen Sparerfolgen nicht beeindrucken konnte. Geld war ihr egal, materielle Sicherheit keine Kategorie. Deswegen hatte sie es mit dem Heiraten auch nicht eilig. Sie entstammte einer alten hanseatischen Kaufmannsfamilie, die mit dem Handel von Latexprodukten über die
Generationen größere Mengen Bargeld, Immobilien und anderweitiges Vermögen zusammengerafft hatte: Millionen mit Autoreifen, Taucheranzügen, Kondomen - ein Traum. Martin hatte sich in den acht Jahren, da sie zusammen waren, nie getraut, nach ihren Finanzen zu fragen, aber so viel war klar: Dorothea gehörte nicht nur zur Erben-Generation, sondern, viel besser, zur Goldener-Löffel-im-Arsch-Generation. Sie war noch nicht einmal geboren, da stand schon fest: Sie würde nie arbeiten müssen; sie würde nie hungern müssen; sie würde nicht einmal die Zinsen verfrühstücken können, die das Familiengummi jeden Tag abwarf.
Dummerweise hatte insbesondere ihre Mutter Dorothea vom ersten Tag ihres Lebens eingehämmert, dass jedes männliche Wesen nur hinter ihrem Geld her sein würde; jedes weibliche übrigens auch. Ihre überwiegende Lebenszeit war Dorothea also damit beschäftigt gewesen, misstrauisch zu sein und sich mögliche niedere Motive auszudenken, weswegen dieser Junge nun gerade nett zu ihr gewesen sein könnte.
Dorothea hatte sich nie schön gefühlt, klug oder sonstwie erfolgreich, sondern immer nur vermögend. Deswegen war dieser TV-Job ja so wichtig für sie: Sie wollte Anerkennung für etwas anderes als ihre Kohle, und sei es nur für ihre geschmackvoll arrangierten Klamotten, die sie beim Verlesen der Aktienkurse trug.
Der Philosophie-Student Martin war ganz anders gewesen. Schüchtern hatte er sie nach einem Kugelschreiber gefragt, weil er eine Postkarte an seine Mutter schreiben wollte, damals im Hafen von Piräus. Es stellte sich heraus, dass sie beide das gleiche Ziel hatten: die Philosophen-Insel
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