Der Vormacher
nächsten Moment das Buch aus der Hand reißen. Einmal wollte ich sie wegschicken, worauf ein Machtkampf entbrannte, den ich beinahe zu meinen Gunsten entscheiden konnte. Bis Jana mich vorwurfsvoll angesehen hat und mit Kinderstimme fragte: »Darf denn Mutti nicht zuhören, wenn du etwas vorliest?« Seitdem habe ich es aufgegeben, ihre Mutter in ihre Schranken zu weisen. Ich ignoriere sie, soweit ich nur kann. Zu zweit sind Jana und ich nur noch, wenn ihre Mutter auf dem Klo oder unter der Dusche ist.
Ich flüchte ins Büro, für die halben Tage, die mir noch bleiben; meistens gehe ich am Nachmittag, dann ist der Tag zu Hause in zwei geteilt und besser zu ertragen. Emil ist inzwischen offiziell Vize geworden, das hat der Chef beschlossen, als ich auf halbe Stelle ging. Das Rennen ist also entschieden. Emil hat gewonnen. Ich bin weiter vom Ziel entfernt denn je. Das Schlimmste ist, dass Emil so überbescheiden auftritt. In den Meetings lobt er mich vor versammelter Mannschaft; eine Verarsche ersten Grades, er lässt mich seine Macht spüren. »Bewundernswert«, sagt er dann, ohne eine Miene zu verziehen, mit einem ganz ernsthaft-mitfühlenden Blick, »wie Henri das hinkriegt, eine todkranke Frau und dann noch so gute Arbeit abliefern, alle Achtung, daran können wir uns alle ein Beispiel nehmen.«
»Na ja«, habe ich versucht, den Ball zurückzuspielen, »besser nicht, wir wollen ja nicht alle eine todkranke Frau zu Hause haben.« Gelacht hat natürlich keiner, nicht mal Theodora. Ach, Theodora. Wir reden wenig die letzte Zeit, beinah habe ich das Gefühl, dass sie mir aus dem Weg geht, obwohl sie immer noch sehr freundlich ist, wenn wir uns doch mal begegnen. Aber ich habe nicht den Nerv, der Sache nachzugehen, ich bin froh um jedes gedankentötende Stückchen Arbeit, das ich in die Finger bekomme. Linda ist anscheinend sehr glücklich mit ihrem Helmut, sie sehen einander zwar selten, weil er geschäftlich viel unterwegs ist, aber sie schwärmt immer in den höchsten Tönen von ihm. Ehrlich gesagt geht mir ihre Verliebtheit ziemlich auf die Nerven, verständlicherweise, aber das traue ich mich nicht zu sagen, denn sie ist die Einzige, mit der ich noch ein halbwegs vernünftiges Gespräch führen kann.
Ich lasse mich treiben. Ich mache, was von mir verlangt wird. Ich denke so wenig wie möglich. Zur Arbeit, zum Supermarkt, die Wäsche machen, Janas Gemecker anhören, Essen kochen, mit dem Arzt telefonieren, Janas Geheule ertragen, einen Termin in der Klinik vereinbaren, von Janas Mutter angeschwiegen werden, zwischendurch einen Anruf erledigen … abends falle ich todmüde ins Bett, neben eine Jana, die sich am einen Tag nicht anfassen lässt, am anderen Tag so verzweifelt an mich klammert, dass ich nicht mehr schlafen kann. Die Ärzte wollen, dass Jana ins Krankenhaus kommt, um im Ernstfall schneller eingreifen zu können. Jana aber, von ihrer Mutter ermutigt, will so lange wie möglich zu Hause bleiben.
An einem Samstag sagt sie: »Henri, ich will ans Meer.« Ich erkläre ihr, dass das Meer vier Stunden entfernt ist und dass ich ihr die Autofahrt nicht zumuten will. Aber ihre Mutter hat zugehört. Sie sekundiert ihrer Tochter und nennt mich einen Unmenschen, weil ich einer Todkranken verwehren will, noch mal das Meer zu sehen. Also fahren wir ans Meer. Auf der Autobahn ist Stau. Jana bekommt einen Anfall, stärker als alle vorhergehenden, sie kriegt keine Luft mehr, es fehlt nicht viel und sie stirbt auf dem Beifahrersitz. Die Ambulanz bringt sie zum nächsten Krankenhaus, ihre Mutter und ich warten im Nebenzimmer. Als wir sie wieder zu Gesicht bekommen, schläft sie fest. Am nächsten Tag wird sie in unser Krankenhaus verlegt. Die Mutter schimpft, Jana heult, ich halte es nicht mehr aus. Ich tue so, als ginge ich auf die Toilette; stattdessen gehe ich zum Parkplatz, steige in mein Auto und fahre davon. Zu Hause dusche ich, dann, aus Frust, masturbiere ich, bis es nicht mehr geht, sicher vier-, fünfmal hintereinander, dann lasse ich mir ein Bad ein. In der letzten Nacht habe ich nur vier Stunden geschlafen. Das heiße Wasser macht mich noch müder. Mit Mühe schleppe ich mich ins Bett, doch ich finde keinen Schlaf. In meinem Kopf fahren die immergleichen Gedanken Karussell. Das Handy klingelt; ich schalte es aus. Vorsorglich ziehe ich die Telefonschnur aus der Dose. Es ist mittags um zwei. Spätsommerliches Sonnenlicht scheint durch die Gardinen. Nirgends ist Schlaflosigkeit so unerträglich wie im eigenen
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