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Der Vormacher

Der Vormacher

Titel: Der Vormacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand Decker
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Bett. Ich esse eine Tafel Schokolade und ein wenig Knäckebrot. Dann ziehe ich mich an, steige wieder ins Auto und fahre in die Stadt. Der Parkplatz vor dem Büro ist leer. Es ist Sonntag, alle Lichter sind aus. Automatisch tragen mich meine Füße zum Chinesen, aber auch der Chinese hat am Sonntag zu. Auf dem Weg zurück komme ich an einem kleinen Park vorbei, ein Kinderspielplatz, drei oder vier Bänke, ein paar Bäume. Obwohl das Wetter gut ist, spielt nur ein einziges Kind im Sandkasten, die Mutter sitzt auf einer Bank und raucht. Ich will auch eine rauchen.
    »Entschuldigung«, sage ich. »Hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich, bitte?«
    Wortlos hält sie mir die Packung hin. Ich nehme eine Zigarette und stecke sie in den Mund. Die Frau schaut an mir vorbei, mürrisch, abweisend, beinah feindselig. Ich habe einen Kloß im Hals. Ich traue mich nicht, um Feuer zu bitten. Mit der unangezündeten Zigarette im Mund setze ich mich auf eine andere Bank, ein paar Meter von der Mutter entfernt. Ich fühle mich elend, meine Augen brennen, mein Kopf schmerzt, am liebsten wäre ich tot.
    Da höre ich im Baum über mir ein Geräusch, etwas bewegt sich in den Zweigen, ein Ast ächzt. Ich schaue nach oben und sehe einen Turnschuh zwischen den Blättern. Weiter oben, in den Turnschuhen, steckt ein Mensch; ich sehe seine fleckige, blaue Hose und seine nackten Knöchel. Der Ast ächzt ein zweites Mal, dann bricht er. Aus dem Baum stürzt ein Mann auf meinen Schoß. Es ist der Koch aus dem China-Imbiss. Als er sieht, auf wem er gelandet ist, bricht er in Gelächter aus. Seine Zähne sind gelb, er hat eine Goldkrone und eine Zahnlücke. Er stinkt nach Nikotin und Alkohol. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Er jedenfalls macht keinerlei Anstalten, meinen Schoß zu verlassen.
    »Geh sofort runter«, sage ich. Es wäre albern, einen betrunkenen Chinesen zu siezen. Ich schiebe ihn von meinem Schoß und stehe schnell auf, bevor er auf den Gedanken kommt, sich wieder auf mich plumpsen zu lassen.
    »Was machst du da in dem Baum?«, frage ich. Er grinst.
    »Ich wollte mich aufhängen«, sagt er und zeigt erst auf den Baum und dann auf seinen Hals. »Aber ich habe den Strick vergessen.« Mit diesen Worten kniet er sich auf die Bank, hält sich mit beiden Händen an der Rückenlehne fest und kotzt voller Hingabe in die Büsche. Seine Haltung erinnert mich an eine betende Gestalt auf einer Kirchbank. Als er fertig ist, wendet er sich wieder an mich.
    »Hast du eine Kippe?«, fragt er.
    »Selbst geschnorrt«, antworte ich. »Von der Frau da.«
    Der Chinese setzt einen Fuß nach dem anderen zurück auf den Erdboden und geht dann ohne zu zögern auf die Frau zu, die immer noch raucht und uns vollkommen ignoriert.
    »Kippe?«, fragt er bloß. Die Frau starrt ihn böse an, aber das scheint er nicht zu merken. Ein Speichelfaden hängt von seinem Mundwinkel und glitzert in der Sonne. Wütend zückt die Frau ihr Päckchen. Der Chinese greift zu, zieht zwei Zigaretten heraus, wobei eine dritte auf den Boden fällt, dann dreht er sich um und wankt zu mir zurück. Er holt ein Feuerzeug aus der Tasche und zündet sich eine an. Als er sieht, dass ich immer noch die unangezündete Zigarette im Mund habe, reicht er mir das Feuerzeug. Wir stehen und rauchen.
    »Auferstanden von den Toten«, sagt der Chinese grinsend.
    Er dreht sich zur Frau um, breitet die Arme aus und ruft: »Auferstanden von den Toten!«
    Die Frau hat genug von uns. Sie schnappt sich ihr Kind und macht sich davon.
    Der Chinese muss lachen. Ich lache mit. Es ist so einfach.
    »Auferstanden von den Toten!«, rufe ich der Frau hinterher, aber ich rufe zu leise, nur der Chinese hört mich, denn er nickt gutwillig.
    »So«, sagt er. »Jetzt hab ich Hunger.«
    Er setzt sich in Bewegung. Ich habe auch Hunger. Wir gehen durch die leeren Straßen zum China-Imbiss. Durch eine Tür neben dem Eingang betreten wir ein Treppenhaus, in dem es nach Putzmittel riecht. Die Wohnung liegt im ersten Stock. Der Chinese schließt die Tür auf.
    »Kim!«, brüllt er in den leeren Flur hinein. Er bekommt keine Antwort, aber ein Stuhl wird gerückt. Jemand ist in der Wohnung. Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir zu und folge dem Chinesen ins Wohnzimmer. Zwei Sofas stehen um einen niedrigen Glastisch herum, der mit leeren Bierdosen, Plastiktüten und Aschenbechern bedeckt ist, in scharfem Kontrast zum Rest des Zimmers, das sich in einem Zustand peinlichster Sauberkeit befindet. Auf einem Stuhl vor

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