Der Vormacher
Monate«, sagt Jana leise zwischen zwei Schluchzern. »Vielleicht vier. Er wollte es erst nicht sagen, aber ich habe darauf bestanden.«
Vier Monate. Fünf zu wenig, denke ich mit einer gewissen Erleichterung. Ein Scheißgedanke. Aber ich kann nichts dafür.
»Jana«, sage ich, »wie kann der Arzt eigentlich so sicher sein? Wir machen eine zweite Untersuchung.«
»Die gab es schon«, sagt Jana müde. »Morgen machen sie noch eine. Aber so wie der Arzt mich angesehen hat …«
»Gibt es denn gar keine Möglichkeit? Können wir nicht zu irgendeinem Spezialisten gehen?«
»Ach«, seufzt Jana. »Ach, Henri.«
Vier Monate. Das ändert alles. Oder nicht? Bin ich einer todkranken Jana nicht erst recht die Wahrheit schuldig? Oder bin ich es ihr im Gegenteil schuldig, jetzt nichts zu sagen? Und was bin ich mir selbst schuldig? Muss ich mir eine todkranke Jana antun?
Ich bin verwirrt. Ein hässlicher Gedanke nach dem anderen schwirrt mir durch den Schädel. Ich muss an Jana denken. Ich muss sie trösten.
»Jana«, sage ich, und die Schwäche in meiner Stimme ist ausnahmsweise nicht gespielt. »Jana, ich liebe dich.«
Jana klammert sich an mir fest. Das bin ich: ein Rettungsanker wider Willen, eine letzte Zuflucht, die längst vom Feind überrollt ist. Ach, Jana. Es kommt mir fast so vor, als ob sie mir einfach nur den Bruch, den ich heute Abend endlich herbeiführen wollte, unmöglich machen will. Ich setze meine letzte Hoffnung auf die Untersuchung morgen.
A m nächsten Tag ist es Gewissheit: Die dritte Untersuchung hat das Ergebnis der ersten beiden Untersuchungen bestätigt. Natürlich. All die kleinen Beschwerden, über die Jana im letzten halben Jahr geklagt hat und die ich als Anstellereien abgetan habe, jedenfalls insgeheim, waren erste Symptome. Ich hatte Jana angeboten, sie ins Krankenhaus zu begleiten, aber sie wollte lieber alleine gehen, warum, weiß ich nicht. Ich habe ihr auch angeboten, sie abzuholen, aber sie bleibt noch für ein Gespräch mit irgendeinem Spezialisten. Eigentlich bin ich froh. Was soll ich da auch, außer den betroffenen Freund spielen?
Aber kalt lässt mich die Sache nicht, und ich verfalle wieder in die alte Nervosität. Theodora ist unterwegs, ihre Titronal-Kampagne ist so gut angekommen, dass der Kunde sie zur Präsentation eingeladen hat. Also frage ich Linda, ob sie mit mir essen gehen will. Auf keinen Fall will ich allein beim Essen sitzen. Außerdem reicht es mir langsam, dass Linda mir ständig die kalte Schulter zeigt.
Als Linda ablehnt, erzähle ich ihr von Jana. Einfach so, ungeplant. Es muss raus. Linda taut auf, auf einmal ist sie wieder die Alte, sie lässt alles stehen und liegen und kommt doch mit. Da sie chinesisch nicht mag, gehen wir zum Café an der Ecke. Ich bin in einer seltsamen Stimmung. Als ich zehn Minuten voller »Oh, wie schrecklich« und »Das tut mir so leid« hinter mir habe, ertappe ich mich bei einer Frage, die ich normalerweise nie stellen würde:
»Linda, habe ich dir irgendwas getan in der letzten Zeit? Ich meine, geh ich dir irgendwie auf die Nerven oder so?«
Linda lacht nervös.
»Was meinst du?«, fragt sie.
»Du weißt schon«, sage ich. »Du warst in den letzten Tagen so abweisend.«
»Das hast du dir nur eingebildet«, sagt sie, aber meinem Blick hält sie nicht stand und wendet sich ab. »Es war halt viel los, da habe ich nicht so viel Zeit zum Plaudern. Aber jetzt ist es wieder besser.«
»Also ist alles in Ordnung?«, frage ich.
»Sicher«, sagt sie. Sie wird ein wenig rot dabei, aber das passiert ihr öfter, genauso wie mir. Eine sehr unangenehme Eigenschaft für einen Mann, wie ich finde. Linda hingegen steht es gut.
»Bei mir gibt es etwas Neues«, sagt sie, »aber vielleicht ist dafür jetzt nicht der richtige Moment.«
»Was denn?«
»Na ja«, sagt sie ausweichend. »Ach, besser nicht. Das kommt jetzt wahrscheinlich komisch …«
Ich lächle ermutigend.
»Na gut«, sagt sie verlegen. »Ich habe einen neuen Freund. Er heißt Helmut.«
Blöder Name, Helmut. Natürlich sage ich das nicht. Irgendwie kann ich mir Linda nicht mit einem Freund vorstellen. Immerhin ist sie schon ein Jahr lang Single. Aber das kann ich natürlich auch nicht sagen.
»Helmut«, sage ich stattdessen. Das habe ich bei einem Kommunikationskurs gelernt. Wenn man gerade nicht weiß, was man sagen soll, wiederholt man das letzte Wort des Gesprächspartners. Dadurch erweckt man den Eindruck, dass man besonders gut zugehört hat, und
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