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Der Vormacher

Der Vormacher

Titel: Der Vormacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand Decker
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im Gesicht? Fühlst du dich schlecht behandelt, hast du den Eindruck, dass ich dich nicht respektiere, willst du nicht, dass so mit dir umgesprungen wird?«
    Bei seinen Worten steigt mir das Blut in den Kopf. Ein alter, gemeiner Trick: jemandem sagen, dass er rot wird, damit er rot wird. Das Schlimmste ist aber, dass ich den Trick durchschaue und trotzdem rot werde.
    »Ich will dir mal was sagen«, sagt Fritz und steckt sich eine neue Zigarette an. »Niemand hat dir was getan. Ich habe dich nicht schlecht behandelt, als ich meine Zigarette in dein Bier geworfen habe. Du hast dich schlecht behandelt, weil du davon ausgehst, dass die Zigarette in deinem Bier eine Beleidigung ist, eine Respektlosigkeit, über die du dich aufregen musst. Wenn du dich jetzt beschissen fühlst, ist das deine eigene Schuld.«
    »Meine Schuld, wenn du deine Zigarette in mein Bier wirfst?«, ereifere ich mich. »Das ist doch eine Sauerei!«
    »Vielleicht«, sagt Fritz. »Vielleicht ist es aber auch ein Versehen gewesen. Oder es ist eine chinesische Tradition, von der du noch nie gehört hast. Oder ich leide unter dem Irrglauben, dass du gerne Asche im Bier hast.«
    »Schwachsinn!«
    »Dann nimm an, ich wollte dich wirklich ärgern. In Wirklichkeit gebe ich dir damit Gelegenheit, mich zurückzuärgern. Nämlich indem du das Bier einfach stehen lässt und ein neues öffnest. Es ist doch genug da.«
    Ich nehme mir ein neues Bier, weil ich Durst habe, aber ich ärgere mich, weil ich damit genau das tue, was er sagt.
    »Lektion eins, Henri: Was andere Leute tun, ist ihre Sache. Was sie dir antun, bestimmst du ganz alleine.«
    Selbstzufrieden beugt er sich vor, greift nach einem Plastikbehälter und schüttet den Rest Nudeln auf seinen Teller. Aus einem Impuls heraus begieße ich seine Nudeln mit Bier.
    »Was soll denn das?«, fragt er verblüfft.
    »Eine Frage der Interpretation«, sage ich. »Vielleicht denke ich ja, dass du deine Nudeln gerne mit Biersoße isst.«
    »Biersoße«, wiederholt er. »Gute Idee.« Mit großem Eifer beginnt er, die Nudeln in seinen Mund zu schaufeln. Ich fühle mich verarscht. Nein, ich muss lachen. Eigentlich beides gleichzeitig. Ich kann es mir aussuchen: mich verarscht fühlen oder lachen.
    Fritz grinst.
    »Ich erzähl dir mal was«, sagt er mit vollem Mund. »Eine alte chinesische Geschichte. Oder vietnamesisch, weiß ich nicht mehr so genau. Wahrscheinlich chinesisch, denn es geht um die Brüder Wei. Die Brüder Wei waren im selben Haus groß geworden. Ihre Hütten standen nebeneinander am Gelben Fluss. In allem waren sie einander gleich: Sie heirateten am gleichen Tag, und zwar zwei Schwestern, die einander aufs Haar glichen, sie hatten gleich viele Kinder, und jedes Glück oder Unglück, das den einen befiel, befiel auch den anderen. Als die Brüder recht alt geworden waren, kam ein Mönch auf Besuch, um die beiden seltsam gleichen Männer mit eigenen Augen zu sehen. Er besuchte die Brüder nacheinander auf einen Tee.
    ›Meines war ein schweres Los‹, klagte der erste Bruder. ›Ein langes Leben voll Arbeit hat mich krumm und hart gemacht. Von meinen zehn Kindern sind acht gestorben, nur zwei sind mir geblieben. Als die Soldaten kamen, haben sie alle meine Hühner aufgefressen und meine Frau vergewaltigt. Jedes Jahr kommt der Steuereintreiber und nimmt mehr, als ich geben kann. Meine Frau ist tot; meine Kinder sorgen schlecht für mich; mein Leben ist hart und bitter.‹
    ›Ich habe immer Glück gehabt‹, sprach der zweite Bruder. ›Ein langes Leben an der frischen Luft hat meinen Geist frisch gehalten. Von meinen zehn Kindern sind acht früh gestorben, zum Glück, ich hätte nicht gewusst, wie ich so viele Münder hätte füttern sollen. Als die Soldaten kamen, bin ich gut weggekommen. Nur die Hühner haben sie aufgefressen, und sie waren so beschäftigt mit meiner Frau, dass ich kaum was abbekommen habe. Ich habe nichts; jedes Jahr kommt der Steuereintreiber und geht wieder mit leeren Händen. Meine Frau ist tot; meine Kinder fallen mir kaum zur Last; mein Leben ist ruhig und friedlich.‹
    Eigentlich bescheuert«, schließt Fritz, und wieder weist sein Zeigefinger belehrend nach oben, »aber sehr lehrreich. Lektion zwei: Im Leben passieren Dinge, aber was für Dinge das eigentlich sind, gute oder schlechte, das liegt an dir, Henri.«
    Im Schneidersitz, wie ein selbstgefälliger Buddha, sitzt er mir gegenüber. Er öffnet eine neue Dose und prostet mir zu.
    »Schöne Geschichte«, sage ich. »Aber im

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