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Der Vormacher

Der Vormacher

Titel: Der Vormacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand Decker
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Frau nicht wehzutun.«
    Er breitet die Hände aus und schüttelt entwaffnet den Kopf.
    »Du bist ein Held, Henri, ein moralischer Held. Bewundernswert. Ist noch Bier da?«
    Die leeren Dosen stapeln sich vor ihm auf der Tischplatte.
    »Fritz«, sage ich, während ich ihm eine Dose reiche, »das stimmt doch nicht. Ich bin aus Bequemlichkeit bei Jana geblieben. Und Theodora hätte ich sofort gefickt, wenn ich es nur irgendwie hinbekommen hätte … Ich bin ein Loser …«
    »Kennst du 1984?«, unterbricht mich Fritz.
    »Was? Den Film?«, frage ich.
    »Das Buch«, sagt Fritz. »Solltest du mal lesen. Lektion vier: Die Vergangenheit besteht nicht. Jedenfalls nicht irgendwo in der Welt, sondern nur in Erinnerungen. Wenn du dich anders erinnerst, ändert sich damit die Vergangenheit. Deine Vergangenheit ändert sich in jedem Fall. Stell dir einmal vor, meine letzte Interpretation wäre wahr. Du hast glückliche Jahre mit deiner Frau verbracht – man könnte sogar sagen, du hast sie glücklich gemacht –, und jetzt, wo sie auf den Tod zugeht, bleibst du treu an ihrer Seite. Ist das kein gutes Gefühl?«
    »Müsste ich dann jetzt nicht todtraurig sein?«, gebe ich zu bedenken.
    »Keineswegs«, sagt Fritz. »Du weißt, dass der Tod besser ist als eine lange Krankheit. Du weißt auch, dass jetzt nicht die Zeit zu trauern ist. Dadurch machst du deiner Frau die Sache nur unnötig schwer. Außerdem ist deine Liebe eine große Liebe, die keinen Egoismus kennt – das Loslassen fällt dir leicht, weil du jeden Tag mit ihr aufs Neue als ein Geschenk erfahren hast, niemals als eine Selbstverständlichkeit.«
    So kann man es natürlich auch sehen: Ich liebe Jana. Meine Liebe ist eine große Liebe, in der für Egoismus kein Platz ist. Deshalb trauere ich nicht, deswegen bin ich nicht verzweifelt, weil Trauer und Verzweiflung die Situation nur schwerer machen würden für Jana und mich selbst. Und für ihre Mutter natürlich, die sehr unter den Umständen leidet. Warum bin ich dann einfach aus dem Krankenhaus abgehauen? Ganz klar – weil ich gespürt habe, dass sie etwas Zeit zu zweit brauchten, ich hingegen etwas Zeit für mich selbst.
    Fritz rülpst. Inzwischen ist er in eine horizontale Position abgesunken, aus der er sich mit Mühe wieder aufrichtet.
    »Eigentlich«, sagt er, »ist die Vergangenheit leer, eine Art Nirwana, ein Ausnahmezustand. Die Vergangenheit stirbt jeden Moment, bis nichts mehr davon über ist. Erst stirbt sie in dem Moment, in dem sie Vergangenheit wird, denn nur in dem Augenblick, in dem sie jetzt ist, besitzt sie überhaupt fassbare Realität. Na ja, fassbar, lebbar sollte man vielleicht eher sagen. Und in dem Augenblick, in dem sie Gegenwart ist, ist sie noch nicht vergangen. Wenn sie aber Vergangenheit wird, wie gesagt, dann ist sie eigentlich schon nicht mehr, dann ist sie nur noch gewesen. Und gleich hat sie tausend Gesichter – für jeden, der sie mitgemacht hat, für jeden Gesichtspunkt, auch für ein Tier, eine Pflanze, einen Stein war sie anders, vor allem natürlich für Menschen, von denen wissen wir immerhin sicher, dass sie Vergangenheit als gewesene Gegenwart erinnern können. Und so besteht die Vergangenheit dann auch – als gewesene Gegenwart in vielen Millionen Menschenhirnen, und als Erfahrung, als Narbe, als Alterungsspur, als Zeitfalte sozusagen in den weniger exzentrisch veranlagten Wesen. Ein äußerst prekäres Bestehen, in unendlich vielen subjektiven, allemal unzureichenden Momentaufnahmen, die noch dazu veränderlich sind – mein Gestern von Heute ist nicht dasselbe wie mein Vorgestern von Morgen.«
    Das Bier steigt mir zu Kopf. Ich kann ihm kaum noch folgen. Außerdem macht mir mein Magen zu schaffen.
    »Und ja, die objektive Vergangenheit, die gibt es natürlich auch noch …« Fritz’ Finger zeigt schräg nach oben. »Aber die ist prinzipiell unerkennbar. Außerdem … wenn man objektiv, also ohne festen Ausgangspunkt betrachten möchte … das geht gar nicht, nämlich: Auch Zeit … auch Zeit ist subjektiv, besser gesagt – seit Kant wissen wir, oder seit Hawkings … Haw-dings … von einem objektiven Standpunkt, den es nicht geben kann, aber hypothetisch, jedenfalls gäbe es da wahrscheinlich auch gar keine Zeit … die Auffassung von Zeit als eine Linie, von früher über heute in die Zukunft hinein, ist auch streng subjektiv … Henri, gibst du mir mal den Eimer dort?«
    Ich brauche einen Moment, bis ich, mit dem Blick seinem weisenden Finger folgend, den roten

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