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Der Vormacher

Der Vormacher

Titel: Der Vormacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand Decker
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Blick zu. Sie zieht Emil hinter sich her in ihr Zimmer. Janas Mutter wird weich in meinen Armen, sie zittert vor Erschöpfung.
    »Ich habe gedacht«, sagt sie, »ich war mir ganz sicher.«
    Ich setze sie in die Küche und schenke ihr ein Glas Milch ein.
    »Ich bin dir mit dem Taxi gefolgt«, sagt sie.
    »Ich ruf dir ein neues«, erkläre ich ruhig. »Oder steht es noch unten?«
    Sie schüttelt den Kopf. Ich rufe einen Wagen, und wir sitzen wortlos beieinander, bis der Fahrer klingelt.
    »Ich habe mich in dir getäuscht«, sagt sie, als ich sie die Treppe hinunterbringe. »Es tut mir leid.«
    »Schon gut«, sage ich. Und es stimmt, ich bin ihr nicht böse. Nur schade, dass sie Emil keine gescheuert hat.
    »Kommst du morgen?«, fragt sie noch. »Ich bin ab drei bei Jana.«
    »Ich komme um vier«, verspreche ich.
    »Schön«, sagt sie und versucht zu lächeln.

 
     
     
     
     
    A ls ich in mein Zimmer zurückkehre, höre ich hinter Theodoras Tür Getuschel. Emil flüstert etwas, sie antwortet abweisend, beim zweiten Mal hörbar schroff. Ob sie schon genug von ihm hat? Mit mir redet sie nie so. Ich kann mir vorstellen, wie Emil sich jetzt fühlt. Unsicher, aus dem Gleichgewicht gebracht, vom hohen Ross gestoßen. Gerade noch war er der große Dampfhammer, der mächtige Mädchenficker, der umschwärmte Liebhaber, und jetzt ist er nur noch ein beleibter Mitschläfer, der sich von seiner Gastgeberin zurechtweisen lassen muss.
    Lächelnd erklimme ich mein Bett und lege mich auf den Rücken. Ich stelle mir vor, wie das von oben aussieht. Ich in meinem Bademantel, Arme und Beine von mir gestreckt, wie einer, der auf dem Wasser treibt; eine Zimmerwand weiter eine einschlafende Theodora, daneben ein zweifelnder Emil, der sich in ihrem schmalen Bett hin und her dreht, um seinen Bauch irgendwo unterzubringen, wo er nicht stört; noch ein paar Wände weiter die Nachbarwohnungen, voll mit schlafenden Menschen, die wegen der Hitze ihre Bettdecken von sich gestrampelt haben; da erwacht einer schwitzend aus einem Traum, ein anderer kann nicht schlafen, er sitzt seit Stunden vor dem Fernseher; zwischen den Menschen Gerüche, Geräusche, das Surren von Stechmücken, hin und wieder ein einsames Auto; jetzt sehe ich das ganze Gebäude von oben, die ganze Straße, die ganze Stadt von oben; überall liegen sie und schlafen, Menschen wie ich, dazwischen Katzen, Hunde, Mäuse, Fliegen und Mikroben; Bäume, Ampeln, Litfaßsäulen, Bauernhöfe, Felder, Berge, Täler, Ozeane; die Welt ist unendlich, und ein Mensch ist nur ein nervöser Zellhaufen, ein verirrt es Bewusstsein, ein dummes, kleines, egoistisches Säugetier, das sich von seinen winzigen Säugetiersorgen peinigen lässt. Ich sehe alles von oben, im Zusammenhang, alles, wie es wirklich ist, klein und wuselig und unbedeutend.
    Ein Wir gibt es nicht. Bei wem ich auch bin, immer geht es »ich gegen die anderen«. Wenn Emil in Theodora ist, ist er immer noch allein und isoliert. Würde sie sonst so schroff mit ihm umgehen? Es geht nicht anders. Wenn Jana unsere letzte Liebesnacht feiert, was ist das außer Selbstbetrug? Es gibt kein Wir. Den Hiller, den sie liebt, gibt es nicht. Es gibt nur den echten Hiller, dem sie nichts bedeutet, der aus Mitleid eine Runde mitspielt, weil er gerührt ist durch ihre Liebe, die ihm gar nicht wirklich gilt. Um zu lieben, muss man blind sein. Der andere ist immer unerreichbar. Wenn man denkt, dass man zusammen ist, wenn man die Gemeinsamkeit fühlt, dann fühlt man etwas, dass es nicht gibt. Wir sind alle gleich und trotzdem immer allein.
    Als ich bei Fritz war, habe ich Gemeinsamkeit gefühlt. Aber was für eine Gemeinsamkeit war das? Ich hätte jedem mein Herz ausgeschüttet, der bereit gewesen wäre, mir zuzuhören. Und Fritz? Ein besoffener Mischling, der einem Trinkkumpan für einen Mittag weise Ratschläge gibt und dann in einen Eimer kotzt.
    Aber gut, er hat recht gehabt. Ich habe sogar eine seiner Einsichten aufgeschrieben und über meinem Bett aufgehängt. »Was ist so lächerlich wie ein Blatt im Herbst, das über den Wind klagt?« Ich bin ein Blatt, und wie sehr ich mich auch sträube, der Sturm merkt es gar nicht, er bläst mich dorthin, wo er will. Und wie er mich heute Abend durch die Stadt geblasen hat, der Sturm! Erst meine Flucht aus Theodoras Haus, dann mein peinlicher Einsatz als Retter in der Not, schließlich die lächerliche Darbietung auf meiner eigenen Terrasse.
    Ich bin ein Verlierer, ein kläglicher, selbstsüchtiger Scheißer.

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