Der Wachsblumenstrauß
Glück, dachte Mr Entwhistle, dass Maude so kräftig gebaut war.
»Das wäre geschafft«, sagte sie. »Die alte Rostlaube hat in letzter Zeit viel Scherereien gemacht. Auf dem Heimweg von der Beerdigung hat sie mich sogar ganz im Stich gelassen. Ich musste drei Kilometer zur nächsten Werkstatt gehen, und die Mechaniker dort waren nicht gerade Könner ihres Fachs – eine einfache Dorfwerkstatt eben. Ich musste im Gasthaus übernachten, während sie daran herumgebastelt haben. Das hat Timothy natürlich noch zusätzlich aufgeregt. Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass ich erst am nächsten Tag heimkommen würde. Da war er völlig aus dem Häuschen. Man versucht ja, so viel wie möglich von ihm fern zu halten, aber bei manchen Dingen geht es nicht – der Mord an Cora, zum Beispiel. Ich musste Dr. Barton holen, damit er ihm ein Beruhigungsmittel gibt. Sachen wie ein Mord sind einfach zu viel für jemanden, der so krank ist wie Timothy. Aber Cora war ja wohl immer schon ziemlich dumm.«
Diese Bemerkungen nahm Mr Entwhistle schweigend zur Kenntnis. Ihm war nicht ganz klar, was Maude damit sagen wollte.
»Ich glaube, ich hatte Cora seit unserer Hochzeit nicht mehr gesehen«, fuhr Maude fort. »Damals wollte ich Timothy nicht direkt sagen, dass ich seine jüngste Schwester für verrückt hielt, aber gedacht habe ich es mir. Sie hat schon damals die ungeheuerlichsten Sachen gesagt! Man wusste nie, ob man sich nun darüber aufregen oder lachen sollte. Wahrscheinlich hat sie ihr Leben lang in einem Wolkenkuckucksheim gelebt – eine Welt voller Melodramen und wirrer Fantasieträume. Und jetzt hat sie den Preis dafür bezahlen müssen, die arme Seele. Hat sie Protegés gehabt?«
»Protegés? Was meinen Sie damit?«
»Nur ein Gedanke. Einen jungen Maler oder Musiker, den sie ausgehalten hat – etwas in der Art. Jemand, den sie an dem Tag ins Haus gelassen und der sie dann ermordet hat, um an ihr Bargeld zu kommen. Ein Halbstarker vielleicht – in dem Alter sind sie manchmal etwas überdreht, vor allem, wenn sie zum neurotischen Künstlertyp gehören. Ich meine, es ist doch sehr merkwürdig, dass jemand am helllichten Nachmittag bei ihr einbricht und sie umbringt. Wenn man schon in ein Haus einbricht, tut man das doch nachts.«
»Nachts wären zwei Frauen im Haus gewesen.«
»Ach ja, natürlich, die Hausdame. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eigens wartet, bis sie aus dem Haus ist, und dann einbricht und Cora überfällt. Welchen Sinn sollte das haben? Wer immer es war, kann doch nicht davon ausgegangen sein, dass sie viel Bargeld hatte oder sonst was Wertvolles, und es muss doch auch Gelegenheiten gegeben haben, wenn beide Frauen außer Haus waren. Dann wäre es viel einfacher gewesen. Es ist doch dumm, einen Mord zu begehen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«
»Ihrer Ansicht nach war der Mord an Cora unnötig?«
»Er kommt mir einfach sinnlos vor.«
Sollte ein Mord sinnvoll sein, fragte Mr Entwhistle sich. Rein logisch gesehen lautete die Antwort: Ja. Aber viele Morde waren sinnlos. Wahrscheinlich, überlegte Mr Entwhistle, hing es vom Wesen des Mörders ab.
Was wusste er überhaupt von Mördern und ihren Gedankengängen? Sehr wenig. Seine Kanzlei hatte keine Gewaltverbrechen übernommen, und er selbst hatte sich nie mit Kriminologie befasst. Soweit er es beurteilen konnte, wurden die unterschiedlichsten Typen von Menschen zum Mörder. Einige aus reiner Eitelkeit, andere aus Machtgier. Manche, wie Seddon, waren Geizhälse gewesen und wieder andere fühlten sich unwiderstehlich zu Frauen hingezogen, wie Smith und Rowse. Und einige, Armstrong zum Beispiel, waren ausgesprochen angenehme Zeitgenossen gewesen. Edith Thompson hatte in einer Welt gewalttätiger Fantasie gelebt, Schwester Waddington hatte ihre betagten Patienten mit geschäftsmäßiger Nonchalance ins Jenseits befördert.
Maudes Stimme unterbrach seinen Gedankengang.
»Wenn ich nur die Zeitung vor Timothy verstecken könnte! Aber er besteht darauf, sie zu lesen, und dann regt er sich natürlich über alles auf. Ihnen ist doch klar, Mr Entwhistle – es kommt nicht in Frage, dass Timothy zur gerichtlichen Untersuchung fährt. Wenn nötig, kann Dr. Barton ihm ein Attest ausstellen.«
»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
»Gott sei Dank!«
Sie bogen durch das Tor von Stansfield Grange und fuhren eine verwahrloste Auffahrt hinauf. Früher einmal war das Anwesen recht hübsch gewesen, aber jetzt machte es einen
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