Der Wächter
Schlangenspiegel zubewegte.
Hinter ihm schwang ein beträchtlicher Teil der gerahmten Filmplakate wie riesenhafte Pendel hin und her. Fric hatte bei seiner Flucht zwar nur etwa ein Dutzend davon angestoßen, aber der von ihnen verursachte Luftzug hatte viele weitere in einen sanfteren Schwung versetzt und eine allgemeine Unruhe erzeugt.
Durch die vielen Bewegungen war der Spiegelmann bestimmt schwieriger zu sehen, als wenn auf dem Dachboden Ruhe geherrscht hätte. Fric konnte ihn jedenfalls nirgendwo erkennen.
Falls man kein Finsterling mit einer Vorliebe für Schatten war, dann waren die Lichtverhältnisse rundum höchst unerfreulich. Zwar waren an den Wänden des Raumes und an einigen der Stützpfeiler Lampen angebracht, aber ihre Zahl und Helligkeit ließ viel zu wünschen übrig. Zudem hinderten die wie bunte Fahnen herabhängenden Posterpalisaden das Licht daran, gleichmäßig von einem Gang in den anderen zu strömen.
Geduckt verharrte Fric bange im Dunkeln, holte tief Luft, hielt den Atem an und lauschte.
Zuerst hörte er nichts als das Didop-da-bidda-bum seines unregelmäßig trommelnden Herzens, doch nahe dem Ende des angehaltenen Atemzugs erreichte auch das Rauschen von Regen auf Schiefer seine Ohren.
Wohl wissend, dass er dem anschleichenden Verfolger durch jedes Geräusch seinen Standort verriet, ließ Fric die verbrauchte Luft vorsichtig ausströmen, sog frische ein und hielt wieder den Atem an.
Hier auf dem Dachboden war er dem Unwetter näher als alle anderen Bewohner des Hauses. Das einsame Seufzen des Regens schwoll zum Geflüster einer Menge an, die in dem nächtlichen Meer, das den Palazzo Rospo überspülte, finstere Geheimnisse austauschte.
So wie Fric sich darauf konzentriert hatte, trotz des Trommelwirbels seines Herzens den Regen zu hören, lauschte er nun auf die Schritte des Spiegelmanns. Die Balken der Dachkonstruktion, die Pendelbewegung der riesigen Plakate und das Flüstern des Regens verzerrten das Geräusch. Manchmal hörte es sich so an, als entfernte der Eindringling sich von Fric, dann wieder, als käme er näher. In Wirklichkeit bewegte er sich wahrscheinlich beharrlich auf sein Opfer zu.
Fric hatte den Rat des Mysteriösen Anrufers befolgt, sich ein gutes, spezielles, geheimes Versteck zu suchen. Er hatte ihm geglaubt, dass er bald einen solchen Zufluchtsort brauchte, aber dass er ihn so bald brauchen würde, war ihm nicht klar gewesen.
Während er sich bemühte, gleichzeitig zu atmen und zu lauschen, nahm er sich die Behauptung seiner bekloppten Mutter zu Herzen, er sei eine »fast unsichtbare, richtige kleine Maus«. Flink und mäuschenstill kroch er an den rot-goldenen Papptürmen einer futuristischen Stadt vorbei, über der sein Vater – ebenfalls in Pappe – mit einem furchterregenden Lasergewehr in den Händen aufragte.
An der Kreuzung zweier Gänge spähte Fric zunächst in beide Richtungen und wandte sich dann nach links. Während er weiterhuschte, analysierte er das Geräusch der schweren Schritte, um zu bestimmen, auf welchem Weg er sich möglichst weit von dem Mann aus dem Spiegel absetzen konnte.
Der Eindringling gab sich keinerlei Mühe, heimlich vorzugehen. Es hatte den Anschein, als wollte er von Fric gehört werden, weil er sich sicher war, dass ihm der Junge doch nicht entkommen konnte.
Moloch. Das musste Moloch sein, der nach einem Opfer suchte, nach einem Kind, das er töten und vielleicht sogar auffressen konnte.
In Wahrheit ist er Moloch , dem zersplitterte Kinderknochen zwischen den Zähnen stecken …
Fric verzichtete darauf, um Hilfe zu rufen, weil ihn bestimmt sowieso niemand hören würde – außer dem Ding, ob Mensch, ob Gott, ob Tier, das ihn verfolgte. Die Wände des Hauses waren dick, die Böden noch dicker, und die am wenigsten weit entfernten Retter befanden sich im ersten Stock.
Womöglich hätte Fric sich zu einem Fenster geschlichen und es gewagt, sich draußen auf den Sims zu stellen oder drei Etagen weit hinabzuspringen. Leider hatte der Dachboden keine Fenster.
In der Nähe stand aufrecht ein falscher Steinsarkophag, der mit geschnitzten Hieroglyphen und dem Bildnis eines toten Pharaos geschmückt war. Die böse Mumie, die einst mit dem größten Filmstar der Welt gekämpft hatte, bewohnte ihn nicht mehr.
Auch ein Überseekoffer, in den ein ebenso skrupelloser wie cleverer Mörder (dargestellt von Richard Gere) einst die Leiche einer hinreißenden Blondine (eigentlich den quicklebendigen Körper bereits erwähnter
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