Der Wächter
liegt auf der Intensivstation im Sterben«, sagte Ethan. »Lange hält er nicht mehr durch. Seit gestern Morgen versuche ich, George unter allen Telefonnummern zu erreichen, die ich von ihm habe, aber er ruft einfach nicht zurück. Die Tür hat er jetzt auch nicht aufgemacht.«
»Ich glaube, er ist verreist«, sagte Reynerd.
»Verreist? Davon hat er mir gar nichts gesagt. Wissen Sie vielleicht, wo er hin ist?«
Reynerd schüttelte den Kopf. »Als ich vorgestern Abend nach Hause gekommen bin, ist er mit einem kleinen Koffer weggegangen.«
»Hat er Ihnen gesagt, wann er zurückkommt?«
»Wir haben uns nur darüber unterhalten, dass es nach Regen aussieht, und dann ist er rausmarschiert«, antwortete Reynerd.
»Mensch, er hat Onkel Harry so gern – ich natürlich auch –, da wird er echt traurig sein, wenn er sich nicht mehr von ihm verabschieden kann. Am besten wäre es, ich hinterließe ihm eine Nachricht, damit er gleich Bescheid weiß, wenn er zurückkommt.«
Reynerd starrte Ethan wortlos an. Seine Halsschlagader pochte heftig. Offensichtlich lief sein aufgeheiztes Hirn auf Hochtouren, aber während Speed bekanntlich für ungemein hektische Denkprozesse sorgte, war es für klares Denken nicht gerade förderlich.
»Es ist bloß so«, sagte Ethan, »ich hab keinen Zettel dabei. Einen Kugelschreiber auch nicht.«
»Ach so«, sagte Reynerd. »Ja, so was hab ich natürlich.«
»Es tut mir wirklich Leid, Sie belästigen zu müssen …«
»Kein Problem«, sagte Reynerd und wandte sich von der Tür ab, um Notizblock und Stift zu holen.
Auf der Schwelle stehend, brannte Ethan darauf, die Wohnung zu betreten. Er wollte Reynerds Nest genauer unter die Lupe nehmen, als es von der Tür aus möglich war.
Gerade als Ethan beschlossen hatte, unverschämt zu sein und ohne Aufforderung einzutreten, blieb Reynerd stehen, drehte sich um und sagte: »Kommen Sie doch rein. Setzen Sie sich.«
Da die Einladung nun ausgesprochen war, konnte Ethan es sich leisten, der Maskerade ein wenig mehr Authentizität zu verleihen, indem er sich zierte. »Vielen Dank, aber ich bin tropfnass …«
»Den Möbeln, die ich hab, schadet das gar nichts«, sagte Reynerd beschwichtigend.
Ethan trat ein, ließ die Wohnungstür aber offen stehen.
Wohn- und Esszimmer waren zu einem großen Raum zusammengefasst. Die Küche schloss sich unmittelbar daran an und war nur durch einen Tresen mit zwei Barhockern abgetrennt.
Reynerd ging in die Küche zu einem unter dem Wandtelefon montierten Regal, während Ethan sich im Wohnzimmer auf eine Sesselkante hockte.
Die Wohnung war spärlich möbliert. Ein Sofa, ein Sessel, ein Couchtisch und ein Fernsehgerät. Im Essbereich standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle.
Auf dem Bildschirm brüllte der MGM-Löwe. Der Ton war heruntergedreht, das Brüllen deshalb gedämpft.
An der Wand hingen mehrere gerahmte Fotografien, große Schwarz-Weiß-Drucke im Format vierzig mal fünfzig Zentimeter. Auf allen Fotos waren Vögel dargestellt.
Reynerd erschien mit einem Notizblock und einem Bleistift. »Geht das?«
»Aber natürlich«, sagte Ethan und streckte die Hand aus.
Auch Klebeband hatte Reynerd mitgebracht. »Um den Zettel an die Tür von George zu kleben.« Er stellte den Abroller auf den Couchtisch.
»Danke«, sagte Ethan. »Übrigens, schöne Fotos.«
»Ich mag Vögel, weil die so frei sind«, sagte Reynerd.
»Tja, das sind sie wohl tatsächlich, was? Die Freiheit des Fliegens … Haben Sie die Fotos selbst gemacht?«
»Nein. Ich sammle bloß.«
Auf einem der Drucke war ein Platz in irgendeiner europäischen Altstadt zu sehen, von dessen Kopfsteinpflaster ein Taubenschwarm aufflatterte. Auf einem anderen zogen Gänse in V-Formation über den düsteren Himmel.
Reynerd deutete auf den Schwarz-Weiß-Film im Fernseher. »Ich wollte mir gerade was zum Knabbern besorgen«, sagte er. »Stört Sie doch nicht, oder?«
»Wie? Aber nein, ’tschuldigung, tun Sie einfach, als wäre ich gar nicht da. Ich schreibe nur schnell meinen Zettel, und dann bin ich auch schon wieder weg.«
Auf einem der Bilder waren die Vögel direkt auf den Fotografen zugeflogen. Es sah aus wie eine Montage aus ineinander greifenden Flügeln, zum Kreischen aufgerissenen Schnäbeln und schwarzen Knopfaugen.
»Kartoffelchips bringen mich irgendwann noch mal um«, sagte Reynerd, während er wieder in die Küche ging.
»Bei mir ist es Eiskrem. Das Zeug kommt mir schon aus den Poren raus.«
Ethan malte in Blockbuchstaben LIEBER GEORGE
Weitere Kostenlose Bücher