Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wächter

Der Wächter

Titel: Der Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
Frauenporträts gemildert worden, aber als er den Blick hob und den Baum betrachtete, verdichtete sie sich wieder. Da bewegte sich irgendetwas.
    Es sprang nicht von Zweig zu Zweig, und es lauerte auch nicht in den grünen Schatten der Äste – diese Bewegung spielte sich in den Schmuckelementen ab. Jede Silberkugel, jede Silbertrompete, jeder silberne Anhänger war ein dreidimensionaler Spiegel. Über die gekrümmten, glänzenden Oberflächen floss ein formloser Schemen, hin und her, am Baum hinauf und wieder herab.
    Nur etwas, was unter der Decke der Rotunde schwebte und dem glitzernden Baum dabei abwechselnd näher kam und sich von ihm entfernte, hätte ein solches Spiegelbild hervorbringen können. Doch da kein Riesenvogel, keine Fledermaus mit fahnengroßen Schwingen, kein Weihnachtsengel und kein Moloch durch die Luft segelten, sah es ganz so aus, als würde die lebendige Dunkelheit innerhalb der Verzierungen fließen. Sich kräuselnd strömte sie an einer Seite des Baums hinauf und an der anderen wie ein Wasserfall wieder hinab.
    Die roten Dekorationen waren zwar dunkler und matter als die silbernen, aber auch sie stellten Spiegel dar. Während derselbe pulsierende Schatten über die Zuckerapfel-backen und die rubinroten Flächen glitt, erinnerte er unweigerlich an aus einer Wunde strömendes Blut.
    Fric spürte, dass das, was ihn jetzt verfolgte, dasselbe war, was ihm früher im Weinkeller auf den Fersen gewesen war.
    Seine Kopfhaut begann zu kribbeln, und die Nackenhärchen stellten sich auf.
    In einem seiner geliebten Fantasyromane hatte er gelesen, dass Geister zwar aus eigenem Willen erschienen, ihre materielle Gestalt jedoch nicht lange beibehalten konnten, wenn man sie nicht beachtete. Nur das Staunen und die Furcht der Person, vor der sie auftauchten, verliehen ihnen Kraft.
    Er hatte auch gelesen, dass Vampire nur dann ein Haus betreten konnten, wenn man sie einlud, die Schwelle zu überschreiten.
    Und er hatte gelesen, dass böse Geister den Verliesen der Hölle entrinnen und in einen lebenden Menschen eindringen konnten, wenn man sich eines Ouijabretts bediente. Das geschah allerdings nicht, wenn man den Toten simple Fragen stellte, sondern nur, wenn man so unvorsichtig war, Dinge wie »Geselle dich zu uns!« oder »Schließe dich uns an!« zu sagen.
    Überhaupt hatte er eine Riesenmenge dämlicher Sachen gelesen, und das meiste davon hatten irgendwelche dämlichen Autoren sich wahrscheinlich bloß aus den Fingern gesogen, um Geld zu machen, indem sie versuchten, dämlichen Produzenten ihre dämlichen Drehbücher anzudrehen.
    Trotzdem zwang Fric sich, den Blick vom Weihnachtsbaum abzuwenden, damit die Erscheinung im Glas sich nicht immer schneller bewegte und mit jeder Sekunde an Kraft gewann, bis alle Kugeln und Trompeten wie ein ganzer Gurt mit Handgranaten gleichzeitig explodierten und ihn mit zehntausend Splittern durchbohrten. Dann nämlich würde jede scharfe Scherbe seinem Fleisch ein Fragment dieser pulsierenden Finsternis einimpfen, die in seinem Blut aufblühen und ihn bald beherrschen würde.
    Am Baum vorbei rannte er aus der Rotunde heraus.
    Im Nordflur drückte er schnell auf den Lichtschalter und lief dann mit quietschenden Gummisohlen eine Avenue mit frisch gebohnertem Kalksteinboden entlang. Vorbei am Salon, am Teezimmer, am kleinen und am großen Speisezimmer, am Frühstücksraum, an der Anrichtekammer des Butlers und der Küche jagte er bis zum Ende des Nordflügels, und diesmal schaute er weder zurück noch nach links oder rechts.
    Im Erdgeschoss des Westflügels waren nicht nur die professionell ausgestattete Waschküche und der Aufenthaltsraum untergebracht, in dem das Personal Pause machte und sein Essen einnahm, sondern auch die Zimmer und Wohnungen der im Haus wohnenden Angestellten.
    Ms. Sanchez und Ms. Norbert, die Hausmädchen, waren, wie allseits bekannt, bis zum Morgen des 24. Dezember beurlaubt. Zu denen wäre Fric ohnehin nicht gegangen. Die beiden waren zwar ganz nett, aber die eine war ständig am Kichern, und die andere erzählte permanent von ihrer Heimat North Dakota, eine Landschaft, die Fric noch uninteressanter als der Inselstaat Tuvalu mit seinem florierenden Kokosnussanbau vorkam.
    Mrs. und Mr. McBee hatten an diesem Tag besonders lange und hart gearbeitet. Inzwischen schliefen sie wahrscheinlich, und Fric wollte sie lieber nicht aufwecken.
    Als er an der Tür von Mr. Trumans Wohnung stand, der praktisch gerade erst zu Fric gesagt hatte, er könne ihn

Weitere Kostenlose Bücher