Der Wächter
erschüttert hatte.
Im verlassenen Ostflur angekommen, rannte er auf den Nordflur zu. Vor jeder geschlossenen Tür, hinter der jede nur vorstellbare Sorte Bestien lauern konnte, schauderte er. Selbst beim Anblick halb blinder antiker Spiegel über steinalten Wandtischchen zuckte er zusammen.
Immer wieder blickte er sich in ängstlicher Erwartung um und sah hoch zur Decke. Bestimmt würde gleich Moloch auf ihn zuschweben, der kannibalische Gott, der sich ausgerechnet in einen Straßenanzug geworfen hatte.
Obwohl er die Haupttreppe erreichte, ohne angegriffen oder verfolgt zu werden, zeigte er sich nicht erleichtert. Das Dröhnen seines Herzens hätte die eisenbeschlagenen Hufe von hundert Pferden mit hundert klapprigen Sensenmännern übertönen können.
Schließlich musste sein Feind ihn ja gar nicht aufstöbern und hetzen wie der Fuchs den Hasen. Wenn Moloch durch Spiegel treten konnte, wieso nicht auch durch Fensterglas? Wieso nicht durch jede Oberfläche, die gut genug poliert war, um auch nur ein ganz klein wenig zu spiegeln, wie etwa die Rundung der Bronzevase da drüben, wie die schwarz lackierten Türen des hohen Empireschränkchens dort hinten, wie etwa, wie etwa, wie etwa …?
Vor Fric versank die dreistöckige Rotunde in der Dunkelheit. Die breite Treppe, die der geschwungenen Wand zum Erdgeschoss hinab folgte, verschwand in spiraligen Schatten.
Der Abend war vorüber. Der Bohnertrupp und die Dekorationsmannschaft hatten ihr Werk vollendet und waren ebenso verschwunden wie das Personal, das zuvor Überstunden gemacht hatte. Die McBees waren zu Bett gegangen.
Er konnte nicht mutterseelenallein hier im zweiten Stock bleiben.
Unmöglich.
Als er auf einen Schalter an der Wand drückte, leuchteten auf einen Schlag alle Kristalllüster auf, die an der Decke der Wendeltreppe hingen. Unzählige geschliffene Glasprismen warfen Regenbogenfarben an die Wände.
Fric stürzte mit solcher Hast die Stufen hinab, dass Cassandra Limone, die Schauspielerin mit den schädelzertrümmernden Wadenmuskeln, bei einem Zusammenprall gewiss nicht mit einem harmlosen Knöchelbruch davongekommen wäre, hätte sie die Treppe immer noch zum Joggen missbraucht.
Kaum war er von der letzten Stufe gesprungen, sah er vor sich den größten Weihnachtsbaum des Hauses aufragen und kam schlitternd zum Stehen. Fünf bis fünfeinhalb Meter hoch und ausschließlich mit rotem, silbernem und kristallenem Schmuck versehen, sah der Baum selbst jetzt atemberaubend sensationell aus, wo die Girlanden aus kleinen Glühbirnen nicht angeschaltet waren.
Das blendende Schauspiel des Baums allein hätte nicht ausgereicht, um Frics Flucht länger als eine Sekunde aufzuhalten, doch während er auf die mit Flitter geschmückten Zweige starrte, merkte er, dass er etwas in der geballten rechten Hand hielt. Als er die Faust öffnete, sah er den Gegenstand, den ihm der Mann im Spiegel gegeben hatte, das zerknüllte Ding, das er auf dem Dachboden doch ganz gewiss weggeschleudert hatte.
Glatt, scharfkantig und leicht war es, aber kein toter Käfer, keine abgelegte Schlangenhaut, kein zerdrückter Fledermausflügel, keine der Zutaten für übles Hexengebräu, die ihm in den Sinn gekommen waren. Bloß ein zerknülltes Foto.
Er faltete das Bild auseinander und strich es zwischen den zitternden Händen glatt.
Das etwa postkartengroße Foto war an zwei Kanten lädiert, als hätte man es aus einem Rahmen gerissen. Es zeigte eine hübsche Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen, die ihm völlig unbekannt war.
Aus Erfahrung wusste Fric nur zu gut, dass die Art und Weise, wie Leute auf Bildern aussahen, nichts mit den Eigenschaften zu tun hatte, die sie im Alltag zur Schau stellten. Dennoch schloss er aus dem milden Lächeln der Frau auf ein warmes Herz und spürte den Wunsch, sie kennen zu lernen.
Ein verfluchtes Amulett, eine Salbendose, die jedem, der sie in die Hand nahm, die unsterbliche Seele aus dem Leib zog, ein Voodoofetisch, ein schwarzmagisches Dingsbums, ein satanischer Trank oder all die anderen seltsamen und schaurigen Gegenstände, die man von jemandem erwartet hätte, der in Spiegeln lebte, wären weniger verwunderlich und verwirrend gewesen als die zerknitterte Fotografie. Fric konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wer diese Frau war, was ihr Bild bedeuten sollte, wie er sie irgendwie identifizieren konnte und was er zu verlieren oder zu gewinnen hatte, wenn er ihren Namen erfuhr.
Seine Angst war von der beruhigenden Wirkung des
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