Der Wächter
andere Worte bezögen, nicht auf irgendetwas Reales. Egal, ob es sich bei einem Text um einen Roman oder ein Gesetz handele, der Leser entscheide selbst, was dieser Text aussage und bedeute. Alle Wahrheit sei relativ, alle moralischen Grundsätze seien betrügerische Interpretationen von religiösen und philosophischen Texten, die in Wirklichkeit keine andere Bedeutung hätten als diejenige, die der Einzelne ihnen zuweise. Das waren herrlich destruktive Ideen, und Corky war sehr stolz auf seine Tätigkeit als Lehrer.
Professor Maxwell Dalton war ein Traditionalist. Er glaubte an Sprache, Bedeutung, Sinn und Grundsätze.
Jahrzehntelang hatten Corky und seine Gesinnungsfreunde das anglistische Seminar beherrscht, doch vor einiger Zeit hatte Dalton versucht, eine Revolte gegen die Sinnlosigkeit anzuzetteln.
Er war ein Ärgernis, eine Landplage, eine Bedrohung für den Triumph des Chaos. Er bewunderte das Werk von Charles Dickens, T. S. Eliot und Mark Twain. Er war ein unsäglich widerwärtiger Zeitgenosse.
Dank Rolf Reynerd war Dalton nun seit über zwölf Wochen in diesem Zimmer eingekerkert.
Als Corky und Reynerd sich geschworen hatten, vor der Welt ein Zeichen zu setzen, indem sie einen gut geplanten Angriff auf Channing Manheims streng bewachtes Anwesen durchführten, hatten sie ein Versprechen abgelegt: Um sich gegenseitig die Ernsthaftigkeit ihres Gelübdes zu beweisen, würde jeder im Auftrag des anderen zuerst ein Kapitalverbrechen begehen. Corky sollte Reynerds Mutter umbringen; im Gegenzug sollte der Schauspieler dann Dalton kidnappen, um ihn Corky auszuliefern.
Eingedenk der Tatsache, dass die Absicht, seine eigene Mutter möglichst diskret zu ersticken, so unversehens in eine enthemmte Prügelei mit dem Schürhaken ausgeartet war, hatte sich Corky einen unregistrierten Revolver besorgt, um Mina Reynerd rasch und professionell zu beseitigen – mit einem Schuss ins Herz, um nicht zu viel Blut zu verspritzen.
Leider hatte er sich damals im Gebrauch von Feuerwaffen nur sehr unzureichend ausgekannt. Der Schuss hatte die alte Dame nicht ins Herz getroffen, sondern in den Fuß.
Mrs. Reynerd hatte vor Schmerzen zu schreien begonnen. Aus Gründen, die Corky noch immer nicht ganz begriff, hatte er danach nicht mit dem Revolver weitergemacht, sondern mit einem Mal gemerkt, dass er die Alte wütend mit einer antiken Bronzelampe traktierte, wodurch das Gerät schwer beschädigt wurde.
Später hatte er sich bei Rolf dafür entschuldigt, den Wert dieses hübschen Erbstücks vermindert zu haben.
Auch der Schauspieler hatte Wort gehalten und anschließend Maxwell Dalton gekidnappt. Er hatte den Professor bewusstlos im Gästezimmer abgeliefert, wo Corky mit einem Vorrat an gekühlten Infusionsbeuteln gewartet hatte, nicht zu vergessen die Drogen, die er brauchte, um seinen Gefangenen in den ersten Wochen, in denen dieser sich noch wehren konnte, gefügig zu machen.
Seither hatte er seinen Kollegen systematisch ausgehungert, indem er ihn intravenös mit gerade genügend Nährstoffen versorgte, um ihn am Leben zu erhalten. Abend für Abend und gelegentlich auch morgens hatte er Dalton einer extremen psychischen Folter ausgesetzt.
Der gute Professor glaubte, dass auch seine Frau Rachel und seine zehnjährige Tochter Emily gekidnappt worden waren und nun in anderen Räumen des Hauses gefangen gehalten wurden.
Täglich erfreute Corky den Professor mit Berichten über die Demütigungen, Misshandlungen und Qualen, die er der hübschen Rachel und der zarten Emily angeblich zufügte. Seine Darstellung war anschaulich, köstlich barbarisch und herrlich obszön.
Über seine Begabung für pornografische Schauergeschichten war Corky überrascht und erfreut, aber noch überraschter war er, dass Dalton seine Geschichten so bereitwillig für bare Münze nahm und vor Kummer und Verzweiflung verging, wenn er ihnen lauschte. Hätte Corky sich zusätzlich zu den Anforderungen, die der Alltag an ihn stellte, um drei Gefangene gekümmert und Rachel und Emily auch nur einen Bruchteil der angeblichen Grausamkeiten zugefügt, dann wäre er jetzt bestimmt fast so dürr und schwach gewesen wie der verhungernde Mann im Bett.
Corkys Mutter, die Ökonomin und Meisterin des akademischen Grabenkampfes, wäre bass erstaunt darüber gewesen, dass ihr Sohn für wenigstens einen seiner Kollegen einen größeren Schrecken darstellte, als sie es je für einen ihrer Kollegen gewesen war. Einen derart komplexen und cleveren Plan wie den, mit dem er
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