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Der Wächter

Der Wächter

Titel: Der Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Keesner.
    Ethan erklomm die Treppe. Seine Beine fühlten sich schwach an, und seine Hände zitterten. Auf dem Absatz blieb er stehen, um ein paarmal tief Luft zu holen und sein löchriges Nervenkostüm zu flicken.
    Es herrschte Ruhe im Haus. Keine durch Wände gedämpfte Stimmen, keine Musik, um einen melancholischen Montag zu untermalen.
    Er glaubte, das leise Ticken und Kratzen von Krähen-klauen auf einem Eisenzaun zu hören, das Flattern und Rauschen auffliegender Tauben, das Tack-tack-tack beharrlich pickender Schnäbel. In Wirklichkeit wusste er, dass es sich nur um die vielen Stimmen des Regens handelte.
    Obwohl er das Gewicht der Pistole in seinem Schulterhalfter spürte, steckte er die rechte Hand in die Jacke und griff nach der Waffe, um sich zu vergewissern, dass er sie auch wirklich mitgenommen hatte. Mit der Fingerspitze fuhr er über das Rautenmuster des Griffs.
    Er zog die Hand wieder aus der Jacke. Den Revolver ließ er im Halfter stecken.
    Der Regen, der an Ethans Hinterkopf alles Haar durchnässt hatte, schob ihm einen tropfenden Finger in den Kragen, der ihm ein Schaudern entlockte.
    Als Ethan den Flur im ersten Stock erreichte, warf er kaum einen Blick auf Apartment 2E, wo George Keesner weder auf die Türglocke noch auf ein Klopfen reagieren würde. Stattdessen ging er schnurstracks zur Tür von Apartment 2B, wo ihn kurzfristig der Mut verließ, aber eben nur beinahe.
    Der Apfelmann öffnete die Haustür fast augenblicklich. Groß, stark und selbstbewusst, wie er war, machte er sich nicht die Mühe, die Sicherheitskette vorzulegen.
    Er schien überhaupt nicht überrascht zu sein, Ethan lebend wiederzusehen, ganz so, als hätte die erste Begegnung gar nicht stattgefunden.
    »Ist Jim da?«, fragte Ethan.
    »Da haben Sie sich in der Tür geirrt«, sagte Reynerd.
    »Jim Briscoe? Wirklich? Ich bin mir ganz sicher, dass das hier seine Wohnung ist.«
    »Ich bin schon über sechs Monate hier.«
    Hinter Reynerd sah Ethan ein Zimmer ganz in Schwarz-Weiß.
    »Sechs Monate? Ist das wirklich schon so lange her, dass ich zuletzt hier war?« Obwohl Ethan das Gefühl hatte, unecht zu klingen, wagte er sich weiter vor. »Tja, das stimmt wohl – sechs oder sieben Monate.«
    An der Wand gegenüber der Tür riss eine Eule ihre riesengroßen Augen auf, als wartete sie auf einen Pistolenschuss.
    »Sagen Sie, hat Jim vielleicht seine neue Anschrift hinterlassen?«, fragte Ethan.
    »Ich habe den Vormieter nie kennen gelernt.«
    Diesmal hielten der harte Glanz in Reynerds Augen, das rasche Pochen an seiner Schläfe und die angespannten Mundwinkel Ethan von weiteren Kühnheiten ab.
    »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er.
    Als er aus Reynerds leise gestelltem Fernseher das sanfte Gebrüll des MGM-Löwen hörte, zögerte er nicht länger und marschierte ohne Umschweife auf die Treppe zu. Ihm war klar, dass er sich mit verdächtiger Hast zurückzog, aber er gab sich Mühe, wenigstens nicht loszurennen.
    Auf dem Treppenabsatz vertraute Ethan seinem Instinkt, drehte sich um, hob den Kopf und sah, dass Rolf Reynerd oben im Flur stand und ihn schweigend beobachtete. In der Hand hielt der Apfelmann weder eine Schusswaffe noch eine Tüte Kartoffelchips.
    Ohne ein weiteres Wort eilte Ethan die letzten Stufen zum Hausflur hinab. Als er die Tür aufstieß, warf er einen Blick zurück, aber Reynerd war ihm nicht ins Erdgeschoss gefolgt.
    Der Regen fiel nun nicht mehr träge herab, sondern jagte ganze Wasserschleier über die Straße. In den Palmen brauste kalter Wind.
    Als Ethan wieder hinter dem Lenkrad seines Wagens saß, ließ er sofort den Motor an, verriegelte alle Türen und schaltete die Heizung an.
    Eine schöne starke Tasse Kaffee würde nun nicht mehr genügen. Ethan hatte keine Ahnung, wohin er sich jetzt wenden sollte.
    Vorahnung. Präkognition. Übersinnliche Kräfte. Hellsehen. Vor seinem geistigen Auge blätterte das Lexikon des Okkulten sich selbsttätig um, aber keine Möglichkeit, die es ihm bot, schien sein Erlebnis erklären zu können.
    Laut Kalender sollte der Winter offiziell erst am morgigen Tag beginnen, aber nun kroch er schon etwas früher in Ethans Knochen. Er strahlte dabei eine Kälte aus, wie sie im Süden Kaliforniens sonst unbekannt war.
    Als Ethan die Hände hob, um sie zu betrachten, zitterten sie so stark, wie er es noch nie an sich erlebt hatte. Die Finger waren so bleich, dass sämtliche Nägel genauso weiß waren wie der dazugehörige Halbmond.
    Weder die Bleichheit noch das Zittern

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