Der Wächter
zum nächsten Bücherregal vor und suchte sich einen Roman heraus.
Obwohl er erst zehn war, las er auf dem Niveau eines Sechzehnjährigen. Stolz war er nicht darauf, weil er den Eindruck hatte, dass die meisten Sechzehnjährigen heutzutage nicht gerade Wunderknaben waren, wahrscheinlich allein deshalb, weil es ohnehin nicht von ihnen erwartet wurde.
Selbst Ms. Dowd, seine Hauslehrerin für Englisch und Literatur, erwartete nicht von ihm, Freude an Büchern zu haben; sie bezweifelte sogar, dass Lesen gut für ihn sei. Bücher, sagte sie, seien Relikte; die Zukunft werde von Bildern geformt, nicht von Worten. Sie glaubte an etwas, was sie als »Meme« bezeichnete. Das seien Ideen, die spontan im Kreis »gut unterrichteter Personen« entstünden und sich in der Bevölkerung wie ein mentaler Virus von einem Individuum zum anderen verbreiteten, um »neue Denkweisen« zu inspirieren.
Ms. Dowd besuchte Fric viermal pro Woche, und nach jeder Stunde ließ sie genügend Mist zurück, um die Rasenflächen und Blumenbeete im Garten mindestens ein Jahr lang mit Dünger zu versorgen.
Wieder in seinem Sessel angelangt, stellte Fric fest, dass er sich nicht ausreichend genug konzentrieren konnte, um in der Erzählung zu versinken. Was für ihn natürlich nicht hieß, dass Bücher irgendwie veraltet waren, sondern nur, dass er müde war und Angst hatte.
Eine Weile saß er einfach nur da und wartete darauf, dass ihm blitzartig ein Mem in den Sinn kam, ihn auf eine ganz neue Denkschiene setzte und ihm alle Gedanken an Moloch, Kinderopfer und mysteriöse, durch Spiegel tretende Männer aus dem Kopf blies. Leider war momentan offenbar keine Mem-Epidemie im Gange.
Als seine Augen sich immer heißer und körniger anfühlten, aber kein bisschen schwerer, griff er in die Gesäßtasche seiner Jeans und zog das Foto heraus, das er durchs Spiegelglas hindurch bekommen hatte. Er faltete es auseinander, legte es auf den Oberschenkel und strich es glatt.
Die Frau darauf sah noch hübscher aus, als er sie im Gedächtnis hatte. Ihre Schönheit war nicht so glanzvoll wie die eines Supermodels, aber dafür echt. Außerdem wirkte sie freundlich und sanft.
Nachdem er darüber nachgesonnen hatte, wer sie sein mochte, malte er sich aus, wie es sein würde, diese Frau als Mutter und ihren Mann als Vater zu haben. Er fühlte sich zwar etwas schuldig, weil er die Quasimama und den Schattenpapa schlichtweg aus seinem imaginären Leben warf, aber da die beiden selbst in einer Scheinwelt lebten, nahmen sie es ihm wohl nicht übel, wenn er sich eine Nacht lang eine Phantasiefamilie suchte.
Nach einer Weile brachte das Lächeln der Frau auf dem Foto auch Fric zum Lächeln. Das war eindeutig besser, als sich ein Mem einzufangen.
Später in der Nacht, als Fric mit seinen neuen Eltern in einem gemütlichen Häuschen am Arsch der Welt in Montana lebte, wo niemand wusste, wer er einmal gewesen war, trat der grauäugige Spiegelmann aus dem glänzenden Blech eines Toasters, tätschelte den Hund am Kopf und sagte warnend, es sei gefährlich, ihn zurückzurufen. »Wenn ein Engel die Vorstellung eines Telefons benutzt, um mich anzurufen«, sagte Fric, »und wenn ich ihn anschließend zurückrufe, wieso werde ich dann mit der Hölle verbunden und nicht mit dem Himmel?« Statt die Frage zu beantworten, spie der Mann wie ein Drache Feuer und verschwand dann wieder in dem spiegelnden Toaster. Die Flammen versengten Frics Kleider, aus denen daraufhin Rauchfetzen aufstiegen, aber er geriet nicht in Brand. Seine hinreißende neue Mutter goss ihm noch ein Glas Limonade ein, damit er sich beruhigte, und dann setzten die beiden ihr Gespräch über ihre Lieblingsbücher fort, während Fric ein großes Stück von dem Schokoladenkuchen aß, den sie für ihn gebacken hatte.
In einer chaotischen Dunkelheit, die erst von Schüssen und dem Dröhnen herannahender Maschinen erfüllt war und dann mit einer Stimme, die aus der Leere rief, drehte Ethan sich unablässig um und rollte über nassen Asphalt, bis er sich ein letztes Mal umdrehte und in einer ruhigen Dunkelheit aus feuchten, zerwühlten Laken aufwachte.
Abrupt setzte er sich im Bett auf und sagte: »Hannah«, weil er im Schlaf, als all seine mentalen Verteidigungsmechanismen außer Kraft gewesen waren, ihre Stimme als die erkannt hatte, die schwach aus dem Telefonhörer gedrungen war.
Am Anfang hatte sie denselben Schrei dreimal wiederholt und dann noch dreimal. Im Schlaf hatte er das Wort, das sie gerufen hatte, nun
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