Der Wächter
, Ethan « rief, lag dieselbe Melancholie, dieselbe Eindringlichkeit.
Wenn Ethan Möwen lauschte, war ihm allerdings nie in den Sinn gekommen, er könnte in ihren verzweifelten Stimmen seinen Namen hören. Auch hatte er nie gedacht, die klagenden Schreie im Nebel würden, so wie es die ferne Stimme inmitten des Lautsprecherrauschens tat, wie Hannah klingen.
Nun rief sie nicht mehr seinen Namen, sondern etwas, was nicht ganz erkennbar war. Ihr Ton klang so, als wollte sie jemand warnen, der ahnungslos vor einem Haus stand, von dessen Dachgesims sich ein gewaltiger Brocken gelöst hatte, der ihn zu erschlagen drohte.
Zwischen dem Erdgeschoss und der oberen Ebene der Tiefgarage, eine halbe Etage von seinem Ziel entfernt, drückte Ethan auf den Knopf mit der Aufschrift NOTHALT. Die Kabine bremste, sackte noch ein kleines Stück weit ab und schwankte dann an ihren Kabeln.
Selbst wenn es sich nicht um eine Sinnestäuschung handelte, sondern tatsächlich um eine Stimme, die aus dem Lautsprecher zu ihm – und nur zu ihm – sprach, durfte er sich davon nicht so hypnotisieren lassen wie am Telefon.
Er dachte an neblige Nächte und leichtsinnige Schiffer, die dem Gesang der Loreley lauschten. Sie fuhren auf die Stimme zu, um das verlockende Versprechen in ihren Worten zu verstehen, prallten auf einen Felsen, erlitten Schiffbruch und ertranken.
Wahrscheinlich war diese Stimme eher die einer Loreley als die seiner toten Hannah. Sich gegen jede Vernunft nach etwas zu sehnen, was auf ewig unerreichbar blieb, war der direkte Weg zu jenem unheilvollen Felsen im endlosen Nebel.
Deshalb hatte er den Aufzug auch nicht angehalten, um die Worte zu enträtseln, die sich wie eine Warnung anhörten. Er hatte den Knopf mit klopfendem Herzen gedrückt, weil ihn plötzlich eine beklemmende Gewissheit überkommen hatte: Wenn sich die Aufzugtür öffnete, würde davor nicht die Garage liegen.
So verrückt es auch war, er erwartete dichten Nebel und schwarzes Wasser, vielleicht auch eine Klippe mit einem gähnenden Abgrund. Jenseits des Wassers oder des Abgrunds aber würde die Stimme erklingen, und er würde keine andere Wahl haben, als auf sie zuzugehen.
Als er am gestrigen Nachmittag in einem anderen Aufzug zu Dunnys Wohnung gefahren war, hatte ihn heftige Platzangst ergriffen.
Auch hier waren die vier Wände bereits enger zusammengetreten als in dem Augenblick, in dem er in die Kabine gestiegen war. Die Decke sank tiefer herab, immer tiefer. Bald war er eingedostes Pressfleisch.
Er drückte die Hände auf die Ohren, um die gespenstische Stimme nicht mehr hören zu müssen.
Während die Luft wärmer und dichter zu werden schien, hörte Ethan sich mühevoll atmen. So wie er jetzt bei jedem Einatmen nach Luft rang und beim Ausatmen keuchte, klang er wie Fric bei einem Asthmaanfall. Bei dem Gedanken an den Jungen hämmerte sein Herz noch stärker. Er streckte die Hand nach dem Knopf aus, um den Aufzug wieder in Gang zu setzen.
Immer noch kamen die Wände näher, als wollten sie ihm weitere irre Phantasien ins Hirn pressen. Womöglich würde er statt der Tiefgarage nicht schwarzes Wasser und Nebel vorfinden, sondern in ein schwarz-weißes Apartment mit wachsamen Vögeln an den Wänden treten, in dem ein quicklebendiger Rolf Reynerd seine Pistole aus einer Tüte Kartoffelchips zog. Nach einem zweiten Bauchschuss konnte Ethan bestimmt nicht mehr auf Gnade hoffen.
Er zögerte und drückte nicht den Knopf.
Möglicherweise weil sein mühsames Atmen ihn an Frics Asthmaanfälle erinnerte, kam es Ethan plötzlich so vor, als hätte er unter den schwachen, unverständlichen Worten aus dem Lautsprecher den Namen des Jungen gehört. » Fric … « Als er den Atem anhielt und sich konzentrierte, verschwand der Name sofort, beim Weiteratmen hörte er ihn jedoch wieder. Oder doch nicht?
Im Aufzug zu Dunnys Wohnung war der vorübergehende Anfall von Platzangst die Flucht vor einer anderen Bedrohung gewesen, der sich Ethan nicht stellen wollte – der irrationalen, aber doch bohrenden Angst, seinen alten Freund oben tot und doch lebendig, kalt wie ein Leichnam und doch frisch und munter vorzufinden.
Wahrscheinlich versteckte sich auch hinter der momentanen Klaustrophobie und der Furcht vor einem wiederauferstandenen Reynerd eine Angst, eine, der er nicht begegnen wollte und die er deshalb nicht ganz aus seinem Unbewussten angeln konnte.
Fric? Fric war emotional verwundbar, und das nicht ohne Grund, aber in konkreter Gefahr war er nicht. Das in
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