Der Wächter
Lichtschein kam, den er dort herausdringen sah.
Auf dem chinesischen Schreibtisch stand eine Bronzelampe mit einem Schirm aus Alabaster. Das buttergelbe Licht ließ die Intarsien aus Perlmutt in bunten Farben schillern.
Früher hatte ein gerahmtes Foto von Hannah auf dem Tisch gestanden. Nun war es fort.
Ethan erinnerte sich daran, wie überrascht er gewesen war, als er das Bild bei seinem ersten Besuch in der Wohnung entdeckt hatte. Elf Wochen war das nun her, kurz nachdem er erfahren hatte, dass er von Dunny als Bevollmächtigter bestimmt worden war.
Ebenso groß wie seine Überraschung war seine Bestürzung gewesen. Hannah war zwar schon fünf Jahre tot, aber das Vorhandensein des Fotos kam ihm wie ein Akt emotionaler Aggression vor. Außerdem empfand er es als eine Beleidigung ihres Andenkens, dass ein Mann, der ein Leben voll Verbrechen und Gewalt führte, sie zum Ziel seiner Zuneigung – und einst auch seines Verlangens – gemacht hatte.
Ethan hatte das Foto nicht angerührt. Obwohl er eine Vollmacht für alle Dunny betreffenden Angelegenheiten besaß, glaubte er nämlich, kein Recht zu haben, das Bild in dem hübschen Silberrahmen zu vernichten oder an sich zu nehmen.
Nachdem sie sich zwölf Jahre lang aus dem Weg gegangen waren, hatten Ethan und Dunny in der Nacht von Hannahs Tod im Krankenhaus wieder miteinander gesprochen und dann noch einmal bei der Beerdigung. Aber auch die gemeinsame Trauer hatte sie nicht versöhnen können, und anschließend hatten sie für weitere drei Jahre kein Wort gewechselt.
Am dritten Jahrestag von Hannahs Tod hatte Dunny angerufen, um Ethan zu sagen, dass er in den sechsunddreißig vergangenen Monaten lang und angestrengt darüber nachgegrübelt habe, weshalb so jemand schon mit zweiunddreißig Jahren sterben müsse. Dabei habe ihr Verlust – das Wissen, dass sie nirgendwo auf der Welt mehr da sei – eine sich langsam entwickelnde, aber tief greifende Wirkung auf ihn gehabt und ihn grundlegend verändert.
Dunny hatte behauptet, er werde sein bisheriges Leben aufgeben und sich von all seinen kriminellen Machenschaften lösen. Das hatte Ethan zwar nicht geglaubt, ihm aber trotzdem Glück gewünscht. Seither hatten sie nie wieder miteinander gesprochen.
Später hatte Ethan von dritter Seite gehört, dass Dunny sich tatsächlich zurückgezogen hatte, dass alte Freunde und Gefährten ihn nie mehr zu Gesicht bekamen. Er sei zum Einsiedler geworden, hieß es, zum Bücherwurm, der sich nicht mehr um die Außenwelt kümmere.
Diese Gerüchte hatte Ethan mit äußerstem Argwohn aufgenommen. Er hatte immer felsenfest damit gerechnet, eines Tages zu erfahren, dass Duncan Whistler wieder in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen war – oder sie nie wirklich aufgegeben hatte.
Noch später hatte er gehört, Dunny sei in den Schoß der Kirche zurückgekehrt, gehe jede Woche zur Messe und habe eine Demut an sich, die man früher nie an ihm bemerkt habe.
Ob das nun stimmte oder nicht, es änderte nichts an der Tatsache, dass Dunny an dem Vermögen festgehalten hatte, zu dem er durch Betrug, Diebstahl und Drogenhandel gekommen war. Hätte ein Mensch, der sich von Grund auf verändert hatte, wirklich in einem durch schmutziges Geld finanzierten Luxus leben können, ohne derart von Gewissensbissen gemartert zu werden, dass er seinen Reichtum einem guten, reinigenden Zweck zur Verfügung stellte?
Nicht nur das Foto von Hannah war aus dem Arbeitszimmer entfernt worden. Auch die unschuldige Atmosphäre eines weltfernen Gelehrtendaseins war verschwunden.
In einer Ecke waren auf dem Boden zwei hohe Bücher-türme aufgestapelt. Die edlen Bände stammten aus zwei Fächern des von Wand zu Wand reichenden Bücherregals.
Eines der Regalbretter, das für das unbedarfte Auge so wie alle anderen befestigt gewesen war, hatte man herausgenommen. Dahinter war ein Teil der Rückwand, der ebenfalls unverrückbar ausgesehen hatte, zur Seite geschoben worden, um einen Wandsafe freizulegen.
Die etwa dreißig Zentimeter breite Tür des Safes stand offen. Ethan steckte tastend die Hand hinein und stellte fest, dass der geräumige Kasten leer war.
Vom Vorhandensein eines Safes im Arbeitszimmer hatte Ethan keine Ahnung gehabt. Logisch betrachtet, hatten nur Dunny und der Handwerker, der das Ding eingebaut hatte, Bescheid wissen können.
Ein Mann mit Hirnschaden zieht sich an. Findet den Weg nach Hause. Erinnert sich an die Kombination seines Safes.
Oder … ein Toter kommt nach Hause. Er ist in
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