Der Wächter
die Wohnung verlassen sollte, zog er die Tür zu und schloss ab.
Mit Betrügereien, Drogen und Schlimmerem war Duncan Whistler reich geworden. Natürlich kamen Kriminelle häufig an das große Geld, aber nur wenige behielten es oder konnten die Freiheit genießen, es auch auszugeben.
Dunny hingegen war so clever gewesen, einer Verhaftung zu entgehen, sein Geld zu waschen und seine Steuern zu zahlen.
Infolgedessen konnte er seine riesige Wohnung unterhalten. Sie bestand aus zwei miteinander verbundenen Fluren und einer Flucht von Zimmern, die für gewöhnlich nicht spiralförmig angeordnet waren wie jetzt, wo sie sich wie ein Nautilusgehäuse ins andere zu krümmen schienen.
Hätte Ethan in einer gefährlichen Situation der gewöhnlichen Art eine Wohnung durchsucht, so hätte er seine Waffe mit ausgestreckten Armen gehalten, den Finger mit maßvollem Druck am Abzug. Türöffnungen hätte er rasch in geduckter Haltung überwunden.
Stattdessen umklammerte er seine Waffe nun mit der rechten Hand und richtete die Mündung zur Decke. Vorsichtig ging er weiter, ganz ohne die dramatische Pose, die man in der Polizeischule beigebracht bekam.
Hätte er sich mit dem Rücken an der Wand entlanggeschoben, hätte er vermieden, irgendeiner Tür den Rücken zuzukehren, hätte er sich schnell bewegt und dabei ständig links-rechts-links geschaut, hätte er permanent auf seine Körperhaltung geachtet und darauf, immer gut genug im Gleichgewicht zu sein, um augenblicklich in eine schussbereite Stellung gehen zu können – hätte er all das getan, dann hätte er sich eingestehen müssen, dass er Angst vor einem Toten hatte.
Da war sie heraus, die Wahrheit. Bisher war er ihr ausgewichen, nun sah er ihr ins Gesicht.
Die Klaustrophobie im Aufzug und die Erwartung, im vierten Stock Rolf Reynerd vorzufinden, waren nur Versuche gewesen, sich der Konfrontation mit seiner wahren Angst zu entziehen, der noch irrationaleren Überzeugung, dass der tote Dunny sich von seiner Bahre erhoben hatte und mit unbekannten Absichten nach Hause gegangen war.
Ethan glaubte nicht, dass Tote gehen konnten.
Er bezweifelte auch, dass Dunny, ob tot oder lebendig, ihm etwas angetan hätte.
Seine Beklemmung entstand durch die Möglichkeit, dass Duncan Whistler, falls er das Gartenzimmer des Krankenhauses tatsächlich aus eigener Kraft verlassen hatte, nur noch dem Namen nach Dunny war. Ein Mensch, der fast ertrunken war und drei Monate im Koma gelegen hatte, konnte schließlich Hirnschäden erlitten haben, die ihn gefährlich werden ließen.
Obwohl Dunny auch mit guten Eigenschaften hatte aufwarten können, zum Beispiel der Fähigkeit, in Hannah eine Frau mit besonderen Qualitäten zu erkennen, war er imstande gewesen, rücksichtslos Gewalt anzuwenden. Sein Erfolg im kriminellen Milieu hatte sich nicht auf geschliffene Umgangsformen und ein nettes Lächeln gegründet.
Wenn nötig, konnte er auch mal einen Schädel einschlagen; gelegentlich hatte er auch dann einen eingeschlagen, wenn eigentlich kein Schädelbruch vonnöten gewesen wäre.
Wenn Dunny nur halb der Mensch war, der er einmal gewesen war, und wenn es sich dabei um die falsche Hälfte handelte, dann hätte Ethan es vorgezogen, ihm nicht Auge in Auge gegenüberzustehen. Im Lauf der Jahre hatte die Beziehung der beiden seltsame Wendungen genommen; da war nicht auszuschließen, dass auf dem Weg eine letzte, noch dunklere Biegung lauerte.
Das riesige Wohnzimmer war mit noblen, modernen Sofas und Sesseln ausgestattet, deren Polster mit weizengelber Seide bespannt waren. Bei sämtlichen Tischen, Schränken und Schmuckobjekten handelte es sich um chinesische Antiquitäten.
Offenbar war Dunny entweder an einen Flaschengeist geraten und hatte sich einen exquisiten Geschmack gewünscht, oder er hatte einen kostspieligen Innenarchitekten beauftragt.
Hier oben war man hoch über den Olivenbäumen, sodass der Blick durch die Fenster auf die Gebäude gegenüber fiel und auf einen Himmel, der so aussah wie die feuchte Kohle und Asche eines gewaltigen, erloschenen Feuers.
Draußen: das Hupen eines Autos in der Ferne, das tiefe, düstere Brummen des Verkehrs auf dem Wilshire Boulevard.
Am Fenster krabbelte der Regen, tack-tack-tack ,trommelnd wie ein Schwarm Junikäfer, pochend wie eine Hand voll Pillendreher, scharrend wie ein Trupp Totengräber.
Im Wohnzimmer herrschte destillierte Stille. Da war nur Ethans Atem, nur sein Herzschlag.
Ethan ging ins Arbeitszimmer, um festzustellen, woher der matte
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