Der Wächter
war klein, aber gemütlich. Auf einem Teppich, der die Marmorkühle dämpfte, standen zwei Art-déco-Sessel und ein Tisch mit einer falschen Tiffanylampe aus rotem, bernsteinfarbenem und grünem Glas.
Das Gebäude besaß zwar auch eine Treppe, aber Ethan nahm den langsam nach oben gleitenden Aufzug. Dunny Whistler wohnte im obersten Stock. Vielmehr hatte er da gewohnt.
In den unteren vier Etagen befanden sich jeweils vier große Wohnungen, hier oben waren dagegen lediglich zwei Penthäuser untergebracht.
Der schwache, unangenehme Geruch eines früheren Fahrstuhlbenutzers hing in der Kabine. Komplex und subtil zugleich kitzelte er Ethans Erinnerung, ohne sich ganz zu erkennen zu geben.
Während Ethan am ersten Stock vorbeiglitt, kam ihm die Kabine plötzlich kleiner vor als bei früheren Besuchen. Die Decke rückte wie der Deckel eines Kochtopfs bedrohlich näher.
Im zweiten Stock merkte Ethan, dass er schneller atmete als notwendig, nicht anders als jemand, der forsch dahinschritt. Die Luft schien dünner zu werden und nicht mehr auszureichen.
Als er den dritten Stock erreichte, war er davon überzeugt, im Geräusch des Aufzugmotors und dem Summen der über ihre Führungsrollen laufenden Kabel etwas Falsches entdecken zu können. Bei jedem Knarzen, jedem Klicken, jedem Quietschen konnte es sich um das Geräusch eines Bolzens handeln, der sich im Inneren der Maschinerie löste.
Die Luft wurde zusehends dünner, Wände und Decke kamen immer näher, die Maschinerie klang noch verdächtiger.
Was, wenn die Tür nicht aufging? Vielleicht war ja das Notruftelefon außer Betrieb, und das Handy hatte hier drin womöglich keinen Empfang.
Wenn es ein Erdbeben gab, konnte der Schacht einstürzen und die Kabine auf das Maß eines Sargs zusammenpressen.
Ethan näherte sich schon dem vierten Stock, als ihm klar wurde, dass diese Symptome einer Klaustrophobie, wie er sie noch nie erlebt hatte, nur eine Maske waren. Dahinter verbarg sich eine andere Angst, eine, die er sich als rational denkender Mensch nur äußerst ungern eingestand.
Irgendwie rechnete er damit, dass Rolf Reynerd ihn im vierten Stock erwartete.
Wie es möglich gewesen wäre, dass Reynerd von Dunny und dessen Adresse erfahren hatte, woher er gewusst hätte, wann Ethan hierher kommen wollte – das waren Fragen, die man ohne ausführliche Nachforschungen und vielleicht auch ohne Verzicht auf jedwede Logik nicht beantworten konnte.
Trotzdem drückte sich Ethan an die Kabinenwand, um ein kleineres Ziel zu bieten. Er zog seine Waffe.
Die Aufzugtür öffnete sich und gab den Blick auf einen etwa zweieinhalb mal vier Meter großen Flur frei, dessen Wände mit warmem, schön gemasertem Anigreholz getäfelt waren. Keine Menschenseele.
Ethan steckte seine Waffe vorerst nicht ins Halfter zurück. Zwei identisch aussehende Türen führten in die beiden Dachterrassenwohnungen. Er ging ohne Umschweife auf die von Dunny Whistler zu.
Mit dem Schlüssel, den Dunnys Anwalt ihm anvertraut hatte, schloss er auf, öffnete leise die Tür und trat dann vorsichtig ein.
Die Alarmanlage war außer Betrieb. Bei seinem letzten Besuch vor acht Tagen hatte Ethan sie eingeschaltet, als er gegangen war.
In der Zwischenzeit war Mrs. Hernandez, die Haushälterin, da gewesen. Bevor Dunny in komatösem Zustand im Krankenhaus gelandet war, hatte sie drei Tage in der Woche hier gearbeitet; nun kam sie nur noch mittwochs.
Höchstwahrscheinlich hatte Mrs. Hernandez vergessen, den Kode der Alarmanlage einzugeben, als sie letzte Woche die Wohnung verlassen hatte. Doch so plausibel diese Erklärung auch sein mochte, Ethan akzeptierte sie nicht. Juanita Hernandez war eine verantwortungsbewusste Frau, die penibel auf jedes Detail achtete.
Gleich hinter der Schwelle blieb er stehen und lauschte. Die Tür hinter sich ließ er offen stehen.
Der Regen trommelte aufs Dach. Das ferne Grollen klang wie der Marschtritt einer Armee, die in einem fernen, hohlen Königreich in den Krieg zog.
Sonst wurde Ethans angestrengte Aufmerksamkeit nur mit Stille belohnt. Vielleicht war es ein warnender Instinkt, vielleicht führte ihn auch nur seine Phantasie in die Irre – jedenfalls spürte er, dass es sich hier nicht um ein entspanntes Schweigen handelte. Es war eine zusammengerollte Ruhe, die so voller potenzieller Energie steckte wie eine Kobra, eine Klapperschlange oder eine Schwarze Mamba.
Weil es ihm lieber war, nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu erregen, und weil niemand außer ihm selbst
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