Der Wächter
Duschkabine, quoll über die Glastür und senkte sich auf Ethan herab.
Trotz der feuchten Luft war sein Mund wie ausgetrocknet. Die an den Gaumen gepresste Zunge löste sich so widerwillig wie ein Klettverschluss.
Als Ethan auf die Badezimmertür zuging, fiel sein Blick wieder auf die Bewegung seines verschwommenen Abbilds in dem beschlagenen Spiegel über den Waschbecken.
Da sah er die unglaubliche Erscheinung und erstarrte.
Unter der Haut des Kondenswassers ragte im Spiegel ein bleiches Gebilde auf. Es war so undeutlich wie Ethans verschleiertes Abbild, aber doch deutlich als die Gestalt eines Mannes oder einer Frau erkennbar.
Ethan war allein. Als er sich rasch im Badezimmer umschaute, sah er keinerlei Gegenstand oder Wandvorsprung, der sich in der beschlagenen Fläche des Spiegels in ein Gespenst hätte verwandeln können.
Deshalb schloss er die Augen und öffnete sie wieder. Die Gestalt war immer noch da.
Nun hörte er nur sein Herz, nur noch sein Herz, das zwar nicht schnell schlug, aber doch schneller als zuvor. Schwer wie ein dröhnender Vorschlaghammer trieb es ihm das Blut ins Gehirn, um alles auszuschwemmen, was die Vernunft verhöhnte.
Ganz klar: Ethans Phantasie hatte einem bedeutungslosen Schatten im Spiegel Bedeutung verliehen, so ähnlich, wie man in der Form der Wolken am Sommerhimmel Menschen, Drachen und allerhand bizarre Kreaturen entdecken konnte. Reine Phantasie, ganz klar.
Aber dieser Mensch, dieser Drache oder was es sonst war – es bewegte sich im Spiegel. Nicht viel zwar, nur ein wenig, aber genug, um Ethans Vorschlaghammerherz zwischen den Schlägen zum Stocken zu bringen.
Vielleicht war auch diese Bewegung nur imaginär.
Zögernd ging Ethan auf den Spiegel zu, wobei er aber nicht direkt vor die schemenhafte Gestalt trat. Trotz des kräftigen Blutstroms, der seine Denkprozesse hätte reinigen sollen, verfolgte ihn nämlich die abergläubische Überzeugung, dass ihm etwas Schreckliches widerfahren würde, wenn sein Spiegelbild das Gespenst überlagerte.
Bestimmt war die Bewegung der nebulösen Erscheinung nur eingebildet gewesen, aber wenn dem so war, dann bildete er sie sich jetzt schon wieder ein. Es sah so aus, als würde die Gestalt ihn zu sich winken.
Gegenüber Hazard Yancy oder einem anderen Kollegen aus früheren Zeiten – ja vielleicht nicht einmal gegenüber Hannah, wäre sie noch am Leben gewesen – hätte Ethan nie zugegeben, was ihm durch den Kopf ging: Wenn er die Hand auf den Spiegel legte, würde er statt feuchtem Glas die Hand eines anderen Wesens spüren, die von einem kalten, bedrohlichen Anderswo aus Kontakt mit ihm herstellte.
Trotzdem wischte er über den Spiegel. Er hinterließ einen glitzernden Bogen aus Wassertröpfchen.
Während Ethan die Hand bewegte, tat das auch das Phantom im Spiegel. Geschickt wich es den reinigenden Fingern aus, blieb hinter der schützenden Kondensschicht
– und trat direkt vor Ethan.
Mit Ausnahme des Gesichts war Ethans unscharfes Spiegelbild im beschlagenen Glas dunkel gewesen, weil seine Kleidung und sein Haar dunkel waren. Nun erhob sich die verschleierte Gestalt vor ihm bleich wie Mondlicht und Mottenflügel und ersetzte sein eigenes Bild.
Angst klopfte an sein Herz, aber er ließ sie nicht herein, genau wie in seiner Zeit als Cop, wenn er unter Beschuss geraten war und es nicht gewagt hatte, von Panik erfasst zu werden.
Außerdem fühlte er sich halb wie in Trance und nahm das Unmögliche vor sich so hin, wie er es in einem Traum hingenommen hätte.
Die Erscheinung beugte sich zu ihm, als wollte sie von der anderen Seite des versilberten Glases aus feststellen, wer Ethan war, genau so, wie dieser sich vorbeugte, um sie genauer zu betrachten.
Ethan hob abermals die Hand und wischte einen schmalen Streifen Dunst weg. Dabei hatte er keinen Zweifel mehr: Wenn er seinem Spiegelbild ins Gesicht blickte, dann würden dessen Augen nicht seine sein, sondern grau wie die von Dunny Whistler.
Wieder bewegte sich der Schemen im Spiegel schneller als Ethans Hand und glitt dahin, wo die dünne Wasserschicht ihn schützte.
Erst als Ethan krampfhaft den Atem ausstieß, merkte er, dass er ihn angehalten hatte.
Beim Einatmen hörte er in einem entfernten Raum der Wohnung ein Krachen, den spröden Klang von zerberstendem Glas.
15
Ethan hatte die Palomar Laboratories beauftragt, sein Blut nach Spuren verbotener Chemikalien zu untersuchen, um festzustellen, ob er ohne sein Wissen unter Drogen gesetzt worden war. Während der
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