Der Wächter
Ereignisse in Reynerds Apartmenthaus hatte er fast das Gefühl gehabt, sich in einem veränderten Bewusstseinszustand zu befinden.
Als er nun das dampfige Bad verließ, fühlte er sich nicht weniger desorientiert als in jenem Augenblick, in dem er nach dem von Rolf Reynerd abgegebenen Bauchschuss unversehrt wieder in seinem Wagen gesessen hatte.
Was immer vor dem Spiegel geschehen war – in Wirklichkeit oder nur in Ethans Phantasie –, er konnte seinen Sinnen nicht mehr voll und ganz vertrauen. Deshalb verhielt er sich noch vorsichtiger als vorher, weil die Dinge vielleicht weiterhin nicht so waren, wie es aussah.
Er kam durch Zimmer, die er bereits durchsucht hatte, drang dann auf neues Terrain vor und erreichte schließlich die Küche. Glassplitter glitzerten auf dem kleinen Esstisch und auf dem Boden.
Ebenfalls auf dem Boden lag der silberne Bilderrahmen, der vom Schreibtisch im Arbeitszimmer verschwunden war. Das Foto von Hannah war herausgerissen worden.
Wer immer das Bild genommen hatte, war zu sehr in Eile gewesen, um die vier Klammern auf der Rückseite des Rahmens zu lösen. Stattdessen hatte er das Glas zerschlagen.
Die Hintertür der Wohnung stand offen.
Sie führte in einen breiten Flur, der von beiden Penthäusern aus zugänglich war. Am nahen Ende wies ein Schild mit der Aufschrift AUSGANG zu einer Treppe. Am anderen Ende befand sich ein Lastenaufzug, der groß genug war, um Kühlschränke und massive Möbelstücke zu befördern.
Wenn jemand den Aufzug benutzt hatte, dann war er längst unten angelangt. Die Maschinerie gab jedenfalls keinen Laut von sich.
Ethan hastete zur Treppe und drückte die Feuertür auf. Auf der Schwelle blieb er stehen und lauschte.
Ein Ächzen oder Stöhnen, ein melancholisches Seufzen, ein Kettenrasseln – selbst ein Gespenst musste irgendwelche Geräusche machen. Aus dem Treppenhaus drang jedoch nur kaltes, hohles Schweigen.
Während Ethan hinuntereilte, fünf Treppen bis zum Erdgeschoss und dann noch eine bis zur Garage, traf er weder auf einen Hausbewohner aus Fleisch und Blut noch auf einen Geist.
Der Geruch von Krankheit und Fieberschweiß, den er im Aufzug wahrgenommen hatte – hier schwebte er nicht in der Luft. Stattdessen roch Ethan einen schwachen Seifenduft, wie von jemandem, der gerade frisch geduscht hatte. Außerdem Spuren eines aromatischen Rasierwassers.
Als Ethan die stählerne Feuertür aufstieß und in die Garage trat, hörte er Motorengeräusche und roch Auspuffgase. Viele der etwa vierzig Stellplätze waren leer; schließlich war es ein gewöhnlicher Werktag.
In der Nähe der Ausfahrt stieß ein Wagen rückwärts aus einer Bucht. Ethan erkannte Dunnys mitternachtsblauen Mercedes.
Mit stählernem Rasseln hob sich das Garagentor. Offenbar hatte der Fahrer die Fernbedienung betätigt.
Die Waffe immer noch in der Hand, rannte Ethan auf den sich entfernenden Wagen zu. Das Tor hob sich nur langsam, sodass der Mercedes noch einmal stehen bleiben musste. Durchs Rückfenster konnte Ethan die Silhouette eines Mannes erkennen, der hinter dem Lenkrad saß, aber nicht deutlich genug, um ihn identifizieren zu können.
Als er den Mercedes fast erreicht hatte, schwenkte er zur Seite ab. Er hatte vor, sich direkt auf die Fahrertür zu stürzen.
Noch bevor das Tor sich ganz gehoben hatte, schoss der Wagen vorwärts. Um ein Haar hätte das Dach ein üppiges Farbmuster am unteren Ende der Barriere hinterlassen.
Während der Mercedes unversehrt die steile Rampe zur Straße hochraste, drückte der Fahrer offenbar erneut die Fernbedienung – als Ethan nämlich das Tor erreichte, hatte es sich schon fast wieder geschlossen. Der Mercedes war auf die Straße eingebogen und verschwunden.
Eine Weile stand Ethan da und spähte durchs Gitter des Tors hinaus ins graue Licht.
Das Regenwasser strömte die Rampe der Ausfahrt herab, um dann unmittelbar vor dem Tor schäumend zwischen den Schlitzen eines Ablaufs zu verschwinden.
Auf der betonierten Schräge kämpfte eine kleine Eidechse, der ein Reifen das Rückgrat gebrochen hatte, tapfer gegen den Wasserstrom an. Stück um Stück arbeitete sie sich hartnäckig aufwärts, so als glaubte sie, am Gipfel warte eine höhere Macht auf sie, um sie von all ihren Verletzungen zu heilen.
Weil er nicht mit ansehen wollte, wie das kleine Geschöpf unweigerlich scheiterte und sterbend in den Ablauf
gespült wurde, wandte Ethan sich ab.
Er steckte die Pistole ins Schulterhalfter.
Dann betrachtete er seine Hände. Sie
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