Der Wächter
totgeschossen hatte, statt ihn nur zu verwunden.
In wenigen Minuten würde das spezielle Untersuchungsteam eintreffen, das bei Schusswechseln mit polizeilicher Beteiligung zum Einsatz kam. Je nach der individuellen Weltanschauung seiner Mitglieder war Folgendes zu erwarten: Entweder verteidigte man Hazards Vorgehen engagiert und bemühte sich, ihn zu entlasten, ohne wirklich nach der Wahrheit zu forschen (was ihm nur recht sein konnte), oder man suchte nach den kleinsten Unstimmigkeiten und nagelte ihn an ein Kreuz aus falschen Indizien, schleppte ihn vor den Gerichtshof der öffentlichen Meinung und ermunterte die Medien dazu, ihn auf dem Scheiterhaufen schmoren zu lassen wie einst die Jungfrau von Orleans.
Eine dritte Möglichkeit bestand darin, dass das Team ohne jedes Vorurteil eintraf, die Tatsachen analytisch untersuchte und zu einem nüchternen, auf Logik und Vernunft basierenden Schluss kam. Auch das wäre Hazard recht gewesen, hatte er doch nichts Falsches getan.
Natürlich war ihm noch nie zu Ohren gekommen, dass es tatsächlich jemals so abgelaufen war. Da hatte er wesentlich größere Chancen, in drei Tagen zu beobachten, wie der Weihnachtsmann seinen mit acht fliegenden Rentieren bespannten Schlitten durch die Lüfte lenkte.
Wenn der Killer noch am Leben war, behauptete er eventuell, Hazard habe Reynerd erschossen und dann versucht, ihm die Sache anzuhängen. Oder er sagte, er sei gerade von Haus zu Haus gegangen, um Spenden fürs Rote Kreuz zu sammeln, als er ins Kreuzfeuer geraten sei. Dadurch habe der echte Killer entkommen können.
Was immer er behauptete, Polizistenhasser und bewusst hirnlose Bürger würden ihm glauben.
Besser noch: Darauf bedacht, an die öffentliche Futterkrippe zu kommen, würde der Schütze sich einen Anwalt suchen, um die Stadt zu verklagen. Egal, wie der Fall in Wirklichkeit gelagert war, würde man sich dann gütlich einigen und Hazard als Teil des Deals opfern. Schließlich gingen Politiker mit anständigen Polizisten auch nicht besser um als mit den jungen Praktikantinnen, die sie regelmäßig missbrauchten und in manchen Fällen sogar umbrachten.
Tot stellte der Schütze deshalb ein wesentlich geringeres Problem dar als lebendig.
Natürlich hätte Hazard zum Schauplatz zurücklatschen können, um dem Killer Gelegenheit zu geben, den entscheidenden halben Liter Blut zu verlieren, aber dennoch rannte er.
Der Mann lag noch so da, wie er gefallen war, nämlich mit dem Gesicht im nassen Gras. Eine Schnecke war ihm am Hals hinaufgekrochen.
An den Fenstern standen Leute und starrten wie tote Schildwachen an den Pforten der Hölle mit leerem Blick herab. Es hätte Hazard nicht gewundert, wenn Reynerd hinter einer der Scheiben gestanden hätte, schwarz-weiß und viel zu glamourös für seine Zeit.
Er wälzte den Killer auf den Rücken. Irgendjemandes Sohn, irgendjemandes Kumpel, Anfang zwanzig, mit kahl geschorenem Kopf und einem winzigen Kokslöffel als Ohrschmuck.
Hazard war froh, dass der aufgesperrte Mund starr und der Blick der Augen auf die Ewigkeit gerichtet war, doch zugleich grauste ihm vor der Erleichterung, die ihn durchströmte.
Mitten im Unwetter stehend, schluckte er die hartnäckigen Reste eines halb verdauten Walnusskekses, die ihm in der Kehle brannten. Dann griff er nach seinem Handy, um bei der Zentrale anzurufen und den Vorfall zu melden.
Nachdem er aufgelegt hatte, hätte er hineingehen können, um die weitere Entwicklung vom Hausflur aus zu beobachten, aber er wartete im strömenden Regen.
In allen vom Wasser blank polierten Oberflächen spiegelten sich die Lichter der Stadt, doch während die Nacht die Dämmerung verschlang, rollte die Dunkelheit sich bedrohlich zusammen wie eine gut gemästete Schlange.
Das Trappeln der Regentropfen auf den üppigen Palmen hörte sich an, als huschten unzählige Baumratten über die gewölbten Wedel.
Hazard konnte nun bereits zwei Schnecken auf dem Gesicht des Toten sehen. Am liebsten hätte er sie weggeschnippt, verzichtete jedoch darauf.
Bestimmt würden einige der Schaulustigen an den Fenstern ihn verdächtigen, Beweismaterial zu unterschlagen, und womöglich begeisterte sich das Untersuchungsteam dann sogar für ihre finsteren Vermutungen.
Wieder das Kratzen in den Knochen. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Ein Toter oben im ersten Stock, ein Toter hier, Sirenen in der Ferne.
Was zum Teufel geht hier vor sich? Was zum Teufel?
23
Rowena, die Herrin der Rosen, wiederholte Dunny Whistlers Worte
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