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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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des ganzen Menschengeschlechts zu werden, von sich geworfen.«
    Napoleons Paktieren mit der Katholischen Kirche und mit dem Adel der besiegten Staaten ist für Seume – und noch heute ist ihm recht zu geben – der Beweis dafür, wie weit Ruhmsucht und Machtgier Napoleon und die französische Nation von den Menschheitsidealen der Französischen Revolution entfernt haben. Wie sollten diese Ideale da in den eroberten Gebieten zum Tragen kommen?
»Bonaparte wird sich wohl hüten, uns unsere Privilegien zu nehmen, sie machen unsere Schwäche. Er setzt seine Satelliten unter unsere Privilegierten, um die Ohnmacht zu erhalten. Unsere Fürsten und Edelleute sind seine treuesten Untertänlinge.«
    Allerdings hat Seume in seinem hilflosen vaterländischen Hass, der nicht einmal nationalstaatlichen Boden unter sich hatte, die Doppeldeutigkeit, man mag sagen: die Dialektik der napoleonischen Ära zwischen Restauration und Modernisierung unterschätzt. Später ist man immer klüger, könnte gegen diese Kritik eingewandt werden. Aber Goethe, Wieland und Hegel waren es auch damals schon. Den ersten beiden verlieh Napoleon das Kreuz der Ehrenlegion. Doch hat das ihr Urteil nicht bestochen, trotz Goethes unangenehmem Entzücken, von einem Großen als Großer anerkannt worden zu sein. Hegel wiederum glaubte als Geschichtsphilosoph den Weltgeist persönlich in Gestalt Napoleons durch Jena reiten zu sehen. Dass ihm dessen Soldaten das Geschirr zertrümmerten, war ärgerlich, aber nicht historisch. Dabei flatterten auch die Manuskriptblätter der gerade erst abgeschlossenen Phänomenologie des Geistes durch die Stube, doch war dies ebenfalls bloß privates Ärgernis, keine philosophische Kritik. Plündernde Soldaten pflegen nicht zu lesen.
    Napoleon indessen, der über Geschichte nicht philosophierte, sondern sie machte, konnte sich als Großer Großmut nicht immer leisten. Ein Attentat mit dem Dolch ist unter Umständen leichter verzeihbar als eines mit Worten. Dem jungen Staps wollte Napoleon das Leben schenken, würde der nur um Vergebung bitten. Aber Staps wollte weder die Vergebung noch das Geschenk. Napoleon, irritiert über die Machtlosigkeit des großen Mannes vor dem kleinen, stellte ihn widerstrebend vors Standgericht und befahl hinterher allen Beteiligten, zu schweigen.
    Der Angriff durch die von dem Augsburger Buchhändler Jenisch und dem Nürnberger Buchhändler Palm verbreiteten (nicht von ihnen verfassten!) Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung zog eine entgegengesetzte Reaktion nach sich. Hier ging es nicht um Verzeihen, sondern um Verfolgen. Diese Sache konnte nicht unauffällig erledigt, hier musste ein öffentliches Exempel statuiert werden. Napoleon schrieb mit eigener Hand: »Ich wünsche, dass sie [die Buchhändler] vor ein Kriegsgericht gestellt und binnen 24 Stunden erschossen werden.« Doch ist selbst der Wunsch eines Napoleon nicht in jedem Fall Befehl: Jenisch wurde freigesprochen, Palm füsiliert.
    Die Schrift, deren Verfasser Palm nicht preisgeben wollte – er ist bis heute nicht sicher identifiziert –, prangerte auch die Servilität des deutschen Adels an. Dieser Dolch aus Worten ging in die gleiche Stoßrichtung wie Seumes Protestnotizen in den Apokryphen , die in der Zeit entstanden, als der Emporkömmling und Empereur Preußen und Sachsen besetzte.
    Patriotismus ohne Vaterland
    Wenn »ein Volk seinen eigenen Fürsten absetzen kann, um wie viel mehr einen fremden, der, alle Naturgesetze verletzend, sich gegen die Regierungseinrichtungen vergeht«. Dies hat nicht Seume gegen den Korsen geschrieben, sondern der Korse gegen Frankreich. Aber was Bonaparte in der Zeit seines Engagements für ein unabhängiges Korsika behauptete, hätte später Seume gegen den französischen Eroberer Napoleon richten können, wäre nur so etwas wie ein Vaterland überhaupt existent gewesen. »Deutschland? Aber wo liegt es?«, fragten Goethe und Schiller 1796 in den Xenien . Etwa im Herzen der Deutschen? Aber welchen Deutschen? »Es gibt vielleicht«, schrieb Wieland 1793 in Über deutschen Patriotismus , »oder vielmehr, es gibt ohne Zweifel Märkische, Sächsische, Bayerische, Würtembergische, Hamburgische, Nürnbergische, Frankfurtische Patrioten usw. Aber Deutsche Patrioten, die das ganze Deutsche Reich als ihr Vaterland lieben […] wo sind sie ?« Mehr als ein Jahrzehnt später schreibt Seume in den Apokryphen :
»Ich höre von überall von heißpatriotischen Preußen, Österreichern, Bayern, Sachsen

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