Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
weiter fort vom Paradies, wie die Romantiker des Ursprungs trauern; immer schneller zur finalen Katastrophe, wie die Apokalyptiker drohen. In der Mitte des 18.Jahrhunderts war es die Natur, die den Fortschrittsoptimismus der europäischen Aufklärung ins Wanken brachte, als in Lissabon die Erde bebte. Der Candide des Philosophen Voltaire war das literarische Echo auf dieses Ereignis. Gegen Ende des Jahrhunderts war es der Mensch, der seine Fähigkeit zur Selbstverbesserung infrage stellte, als er sich in Paris mit einem Schnitt durch den Hals des Königs von der alten Zeit trennte und blindwütig in die neue rannte. Die ›humane‹ Köpfmaschine des Arztes Guillotin war das technische Symbol dieser Phase. Hatte sich ›die Geschichte‹, die arg in die Jahre gekommene ›Lehrmeisterin des Lebens‹, ausgerechnet während des ›philosophischen Jahrhunderts‹ in eine Furie verwandelt? Führte die Aufklärung den Menschen hinters Licht? Würde er nach dem »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« mit all seiner Vernunft nur auf Unvernunft stoßen? Zerfiel der Sinn der Geschichte in die Zufälligkeiten des Geschehens?
Der Mann im Mond schaut sich das alles von oben an – auch von oben herab. Er hat nichts zu tun mit den Menschen und ihren Schicksalen, er schreibt sie nur auf. Der Mann im Mond sitzt in Seumes Kopf, der in seiner Stube in Leipzig über das Manuskript eines Reiseberichts gebeugt ist. Die Idee, den Lebenslauf und den Lauf der Welt als Vernunftzielen folgend zu beschreiben, ist eine Romanphantasie: »Es ist zwar ein befremdlicher und, dem Anscheine nach, ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müsste, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen.« Das ist nicht Seume, das ist Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht . Für Kant ist es nur »dem Anscheine nach« ein »befremdlicher« Gedanke, den »Weltlauf« als »vernünftigen Zwecken« folgend zu erzählen. Wie der gesamten Tradition der Aufklärung ist ihm die Geschichte des Menschengeschlechts keine bloß zufällige Abfolge irgendwelcher Ereignisse, sondern vollzieht sich als Entwicklungsprozess. Sinn wird dem Weltlauf nicht von außen zugeschrieben, sondern ist in ihm selbst enthalten. Deshalb ist Geschichtsschreibung doch etwas anderes als das Abfassen eines Romans.
Seume teilt Kants umständlichen Optimismus nicht. Lebenslauf wie Weltlauf werden nicht dadurch vernünftiger, dass man sich vernünftige Gedanken darüber macht. Seumes Ablehnung des Romans als ästhetische Gattung rührt von seiner Ablehnung der sozialen Konvention her, an die der gute, alte und schöne Roman der Aufklärung gebunden war. In der Vorrede zum Spaziergang heißt es:
»In Romanen hat man uns nun lange genug alte, nicht mehr geleugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausend Mal wiederholt. Ich tadle dieses nicht; es ist der Anfang; aber immer nur Milchspeise für Kinder. […] Die Geschichte ist am Ende doch ganz allein das Magazin unsers Guten und Schlimmen.«
Auch die philosophischen Romane Wielands fallen – unausgesprochen – unter diesen Vorbehalt, der kein Tadel sein will, aber recht forsche Polemik ist. Seumes Verehrung für die Person des Dichters blieb davon unberührt. Wieland wiederum gab seinen Respekt vor Seumes ungefälliger Aufrichtigkeit zu erkennen, suchte aber zugleich den damit verbundenen Aggressionsüberschuss einzudämmen – nicht um sich, sondern um Seume vor Seume zu schützen.
Der reportierte Reporter
Als geschulter Lateiner wusste Seume, woher ›reporter‹ kommt und was es bedeutet. In der Konjugation des Verbs ›reportare‹, ›zurücktragen‹, ›berichten‹, ist ›reporter‹ die Passivform der ersten Person Singular: ›ich werde zurückgetragen‹, ›ich werde berichtet‹. Eine aufschlussreiche Etymologie. Seume hatte ein – nicht immer glückliches – Faible für wortgeschichtliche Herleitungen. Vermutlich wäre er amüsiert darüber gewesen, dass der Reporter ein re-portierter sein soll, also weniger einer, der zurückträgt, auf dem Rücken den Tornister und im Kopf die Eindrücke, als einer, der zurückgetragen wird; nicht nur einer, der berichtet, sondern einer, der berichtet wird. Wenn ich mich erzähle (Aktiv), werde ich auch von mir erzählt (Passiv). Seume reist und sieht sich beim Reisen zu, er
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