Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
usw., die einander in [um] die Wette hassen; nur höre ich von keinem Deutschen.«
Was die Preußen angeht, so lag deren »heißpatriotische« Phase ein halbes Jahrhundert zurück. Sie hatte ihren Höhepunkt im Siebenjährigen Krieg und war genau genommen nicht patriotisch oder preußisch, sondern fritzisch. Der Herzenskult um den aufgeklärten Monarchen ersetzte für einen Teil der Gebildeten und für einen Teil der Dichter und Publizisten den fehlenden deutschen Patriotismus. Das war die Gefühlsperspektive von oben – oder vielleicht richtiger gesagt: die von der Seite, von den Bühnenbrettern und den Schreibpulten aus. Die Gefühle von unten waren die der Deserteure mit den zerprügelten Rücken, der an den Privilegien des Adels scheiternden Bürger, der an den uneingelösten Versprechen verzweifelnden Bauern. Seume in den Apokryphen :
»Warum gehen Sie denn nicht in die Kriegsdienste des Königs von Preußen und dienen Ihrem Vaterlande? Fragte man vor zwei Jahren einen lebhaften, wohlgebildeten, sehr wohl unterrichteten jungen Menschen. Da bekomme ich ja Prügel von dem adligen Fähnrich, war seine Antwort, ich mag es anfangen, wie ich will, und meine Ehrenlaufbahn geht bis zum Feldwebel, wo mich ein adliger Fähnrich zeit Lebens hudelt.«
Dass jeder französische Soldat den Marschallstab im Tornister hatte, war zwar ein märchenhaftes, aber doch kein ganz leeres Versprechen, wenn ein junger Soldat den Marschall nicht ganz wörtlich nahm und beispielsweise Major werden wollte. Jedenfalls musste er nicht von Adel sein, um auf eine ›vernünftige‹ Militärkarriere unter Napoleon hoffen zu können. In Preußen indessen starb man aus bloßer Begeisterung für König und Vaterland – in einem fritzischen Kriegslied Klopstocks von 1749: »Der Feind ist da! Die Schlacht beginnt!/Wohlauf zum Sieg herbei!/Es führet uns der beste Mann/Im ganzen Vaterland./[…]/Willkommen Tod fürs Vaterland!/Wenn unser sinkend Haupt/Schön Blut bedeckt, dann sterben wir/Mit Ruhm fürs Vaterland!«
Klopstock hat die Ode später auf den ostfränkischen König Heinrich I., genannt »der Vogeler«, umgewidmet, der im Jahr 933 die damals als unbesiegbar geltenden Ungarn geschlagen hatte. Gleim dagegen blieb dem Ruhm Friedrichs, dem er seinen eigenen zu verdanken hatte, ein Leben lang treu und dichtete an seinen preußischen Grenadierliedern fort und fort: »Krieg ist mein Lied! Weil alle Welt/Krieg will, so sei es Krieg!/Berlin sei Sparta! Preußens Held/Gekrönt mit Ruhm und Sieg!«
Die preußischen Soldaten, die nicht im Lied des Dichters, sondern in der liederlichen Wirklichkeit zu marschieren hatten, grölten andere Gesänge: »Fürs Vaterland zu sterben,/Wünscht mancher sich./Zehntausend Taler erben:/Das wünsch ich mich!/Das Vaterland ist undankbar,/Und dafür sterben? O du Narr!«
Was soll das überhaupt sein, dieses Vaterland? Und wo kann man es finden?
»Dem gewöhnlichen Menschen ist das Vaterland, wo ihn sein Vater gezeugt, seine Mutter gesäugt und sein Pastor gefirmelt hat; dem Kaufmann, wo er die höchsten Prozente ergaunern kann, ohne von dem Staat gepflückt zu werden; dem Soldaten, wo der Imperator den besten Sold zahlt und die größte Insolenz erlaubt; dem Gelehrten, wo er für seine Schmeicheleien am meisten Weihrauch oder Gold erntet: dem ehrlichen, vernünftigen Manne, wo am meisten Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität ist. Also findet der letzte nur selten sein Vaterland.«
Auch dies steht in den Apokryphen . Schon Jahre zuvor, im Juni 1798, hatte Seume in einem Brief an Gleim den Unterschied zwischen dem Kampfgeist französischer Heere und dem Zwangsdienst deutscher Truppen hervorgehoben:
»Und nun beging man [bei den europäischen Fürsten] wieder den Fehler, nicht zu sehen, welcher Unterschied es ist, wenn Könige und wenn Nationen Krieg führen, wenn bloß die Waffen und wenn Grundsätze und Enthusiasmus schlagen.«
Im November 1805 weist er in einem Brief an Böttiger einmal mehr auf diese mentale Gefechtslage hin:
»Ein Deutscher soll schlagen, damit ihn, wenn er nicht in der Schlacht bleibt, sodann der Edelmann hübsch frohnmäßig in der Zucht habe.«
Wo sollten da die patriotischen Gefühle herkommen? Sie fehlten nicht nur im militärischen, sondern auch im zivilen Dienst, im Land und in der Stadt, in den Ämtern und im Alltag. Und dies seit Jahren und Jahrzehnten. Im August 1792 hatte Seume dem Vaterland frustriert den Rücken gekehrt, militärisch mit dem Dienstantritt bei General
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