Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Igelström, poetisch im Abschiedsschreiben an Münchhausen:
»Das Vaterland bedarf nicht meiner Kräfte,
Hat Männer gnug für Ämter und Geschäfte
Und schenkt mir gerne meine Pflicht.
Ich habe von den vielen fetten Gauen
Auch keinen Fuß mir meinen Kohl zu bauen
Zu einem ländlichen Gericht.«
Gegen Ende seines Lebens notiert er sarkastisch und mit Bitternis im Herzen:
»Mag das Vaterland zugrunde gehen, wenn nur unsere Privilegien gesichert sind.«
Wenn nur die Geschäfte laufen, könnte man fortfahren, und die Vergnügungen nicht gestört werden. So wunderte sich Pierre-François Percy, der große Chirurg der Grande Armée, über das Opernpublikum im gerade besetzten Berlin: »Der Feind ist in Berlin, Preußen ist erobert, der König ist mit einer erschreckten Armee geflohen, und trotzdem war das Theater gesteckt voll, und niemand schien an sein Vaterland zu denken, den Hof zu bedauern oder sich wegen der Zukunft Sorgen zu machen.« Seume in Leipzig stöhnte:
»Wir sind der Gegenstand der Schmach; wir sind nichts als Beute.«
Siebtes Kapitel
Bittere Jahre, letzte Tage
Das Tagebuch vom Mann im Mond –
Und nun – Im Goldenen Schiff
»Nun registriert der Mann im Monde alle bunten und krausen Nachrichten von Erdenpilgern in seine Blätter und macht darüber nach seiner Weise und Weisheit seine Anmerkungen über die Vorkehrungen im Hauptplaneten.«
– Mein Sommer 1805 –
»Und nun –«
– Seumes letzte Worte im Erstdruck von Mein Leben –
»In einem Badeorte müssen die Wirte, welche Kranke einnehmen, eigentlich auf Todesfälle gefasst sein.«
– Aus der Ergänzung von Mein Leben durch C.A.H.Clodius –
»Mein Lauf ist bald barock genug vollbracht,
Bald schlägt’s vielleicht mir Gute Nacht;
Um die Schläfe wird auch schon das Haar mir weiß,
Gar nicht lange dauert’s mehr, so bin ich Greis;
Dann kommt mit der Sichel
Hein und mäht den Michel
Und bugsiert ihn hinter die Gardine.«
Das Gedicht heißt Abendlied und steht am Schluss der Apokryphen . Clodius hat es dort hingestellt in der ersten, aus Angst vor der Zensur arg beschnittenen Ausgabe von 1811. Der todkranke Seume schrieb es in den letzten Lebenswochen und schenkte es Frau von der Recke.
»Was quäl ich mich, wie es dort draußen steht,
Wenn’s leidlich nur von innen geht?«
»Draußen«, also politisch, stand es schlecht. Und psychologisch drinnen nicht viel besser. Seume hat seine letzten Jahre tapfer ausgehalten. Die nach dem Spaziergang aufgeflackerte Berühmtheit glomm nach dem Verbot von Mein Sommer 1805 bei Freunden und Eingeweihten weiter, aber das große Publikum erreichte Seume nicht mehr. Er ging – solange es eben ging – seiner Lehrtätigkeit nach; schrieb an Texten, deren Druck kein Verleger riskieren wollte; verschickte Briefe, deren Gestus gefasst und deren Hoffnungslosigkeit furchtbar ist; wartete ergeben auf eine russische Pension, die bewilligt wurde, als er schon tot war. Und ein letztes Mal fand er Freunde. Sie holten ihn ins böhmische Heilbad Töplitz und halfen ihm beim Sterben.
Das Tagebuch vom Mann im Mond
Wenn man auf Erden den Verstand verliert, kann man ihn auf dem Mond wiederfinden. Er wird dort oben in Flaschen gefüllt: »Als feiner Liquor war er hier zu sehen,/Der, nicht sehr fest verschlossen, leicht verraucht./Man sah in Flaschen aller Art ihn stehen,/Groß oder klein, wie man sie nun gebraucht.«
Im Orlando Furioso des Renaissancedichters Ariost galoppiert ein Ritter auf einem Flügelpferd zum Mond, um den Verstand wiederzuholen, den sein vor Eifersucht rasender Freund Roland verloren hat. Auf diese Episode des Versepos nimmt Seume auf den letzten Seiten von Mein Sommer 1805 Bezug:
»Du weißt, ich bin kein sonderlicher Freund von Romanen: aber ich habe […] doch einmal in Gedanken einen Roman gemacht […]. Wenn es kein Roman gewesen wäre, ich glaube fast, ich hätte ihn nach meiner Weise aufgeschrieben und drucken lassen. Aber wer wird Wahrheiten für Männer erst in Flitterstaat putzen? Der Roman hieß in meinen Gedanken, Tagebuch des Mannes im Mond. […] Nun weißt du aus dem Ariost, dass unser Verstand im Monde wohnt; daher ein Mensch, der nach Verstande schnappt, auch mondsüchtig genannt wird. Wie viel entflogener Verstand muss nun nicht im Monde sein, wovon hier auf Erden das Gegenteil ist?«
In manchen Epochen scheint aller Menschengeist in Mondspirituosen verwandelt, und die Seumes war nicht die letzte, für die sich das sagen ließe. Die Geschichte macht Fortschritte – immer
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