Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Federn ausgeschmückten Fortsetzung von Mein Leben wuchs die Kaution gar auf 80 Taler an.
Wie hoch die Summe auch immer gewesen sein mag, das Ganze war ein sympathetisches Komplott, um Seume nach seinen zwei heißen Desertionen gewissermaßen eine kalte zu ermöglichen.
Wieder in Leipzig beginnt er sein zweites Studium, unterstützt von Graf Hohenthal mit einem Kredit, den er später zurückzahlt. Und er übersetzt, vermittelt durch Christian Felix Weiße, auch einer seiner vielen ›Väter‹, für seinen späteren Chef, den Verleger Göschen, einen englischen Roman. Das Honorar ermöglicht ihm die Rückzahlung des Emdener Kautionkredits. Seine Unruhe kann er nicht besänftigen. Im August 1788 schreibt er an Tapernon:
»Mir gehts? Vortrefflich, entsetzlich gut! Außer dass mirs hier nicht behagen will […] Wissen Sie, dass ich nach England gehen werde? Ja, Ja! sans spas! [witzboldig französisch-deutsch für: ohne Witz] In einem Anfalle von Weisheit, – von Narrheit, wollen meine Freunde sagen – habe ich straks den Enschluss gefasset, eine philosophische Pilgerschaft zu machen. […] Ich habe große Lust, so ohngefähr ein Jahr in Oxford oder Cambridge auf den Pandekten herumzureiten […] Finden Sie nicht, dass ich noch die alte rastlose Seele bin? Wird nie anders werden.«
Damit hat er recht behalten, auch wenn er einstweilen doch in Leipzig bleibt, 1789 sein Schreiben aus America nach Deutschland veröffentlicht, 1790 eine wiederum von Weiße vermittelte Erzieherstelle bei dem jungen Grafen Gustav Andreas Otto von Igelström antritt, 1791 sein Zweitstudium abschließt und sich 1792 mit einer eher kuriosen Schrift über die Waffen in Antike und Gegenwart habilitiert.
Im August des gleichen Jahres beginnt seine abenteuerliche Militärlaufbahn in russischen Diensten. Sie führt ihn wie in Ziegenhayn, Halifax und Emden in die Schreibstuben, doch dieses Mal auch in die Schlacht – falls der polnische Aufstand im russisch besetzten Warschau von 1794 so bezeichnet werden kann. Er überlebt die Revolte mit viel Glück und ohne Kampf in einem Dachbodenversteck, übersteht auch die polnische Gefangenschaft, wird nach der äußerst brutalen Rückeroberung der Stadt durch die Russen befreit, reist nach Riga und soll 1795 einen jungen, schwerkranken russischen Major nach Italien begleiten. Doch diese Ausfahrt wird durch die Weltgeschichte in Gestalt Napoleons verhindert, dessen Truppen Norditalien unsicher machen.
Seume bleibt in Leipzig, veröffentlicht 1796 seinen ersten Gedichtband, bescheiden nach kleiner römischer Münze Obolen tituliert, und freundet sich mit dem Schriftsteller Garlieb Merkel an. Dessen aufrüttelndes Buch über die erbarmungswürdigen Zustände der livländischen Letten enthält im Anhang ein Gedicht Seumes über die dritte polnische Teilung, die nach dem gescheiterten Aufstand Polen bis 1918 von der politischen Landkarte tilgte. Auch eine eigenständig publizierte Schrift widmet Seume den »Vorfällen in Polen«. Sie erscheint ebenfalls 1796 und ist seinem Gönner Graf Hohenthal zugeeignet. Gleich zu Beginn wendet er sich an einen fiktiven »lieben Freund«, mit dem weniger der Graf im Besonderen gemeint ist als allgemein der Leser. Dieser »liebe Freund« erhält eine dieser später so oft wiederholten ein- und aufdringlichen Versicherungen der durch nichts zu erschütternden Wahrheitsliebe des Verfassers, deren Redundanz eher Miss- als Zutrauen hervorruft:
»Seit langer Zeit kennen Sie meine Aufrichtigkeit, Unparteilichkeit und feste Wahrheitsliebe; Sie wissen, dass ich ohne alle Rücksicht immer mein Urteil sage, auch wenn ich mir wohl gar Nachteil und Gefahr dadurch erwerbe. Ich bin ein ehrlicher Mann, der ohne Vorurteile zu sehen glaubt.«
Als die Polenschrift erschien, war Seume offiziell immer noch in russischem Militärdienst. 1797 wird er ohne Pensionsberechtigung entlassen, weil er nach dem Tod der Zarin Katharina im Jahr zuvor einem Ukas ihres Nachfolgers, der die ausländischen Offiziere nach Russland rief, nicht folgen konnte – vielleicht auch nicht wollte. In der Vorrede zum Spaziergang schreibt er:
»Man hat es gemissbilligt, dass ich den Russischen Dienst verlassen habe. Ich kam durch Zufall hin, und durch Zufall weg. Ich bin schlecht belohnt worden; das ist wahrscheinlich auch Zufall.«
Seume hat um seinen ehrenvollen Abschied aus dem Dienst gekämpft und ihn Ende 1798 auch erhalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits für Göschen ein Auftragswerk über die
Weitere Kostenlose Bücher