Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Leipziger Studenten schlüpfte, diesmal nicht im theologischen, sondern im philologischen Fach.
Die Jahre in Emden sind durch eine Entdeckung und eine Enttäuschung markiert. Nach einem ersten gescheiterten Fluchtversuch schreibt Seume mit Kreide einen lateinischen Vers an die Zellentür. Der diensthabende Offizier entdeckt die Inschrift und beginnt eine philologische Debatte mit dem Arrestanten. Der Vorfall landet beim Garnisonschef, General Courbière, der Seume begnadigt, ihn als Sprachlehrer seiner Tochter engagiert und an weitere Familien empfiehlt. So wird es von Göschen und Clodius kolportiert. Seume schrieb 1792 im Rückblick auf die Emdener Jahre an Münchhausen:
»So jammerlich ich da die ersten Monate lebte, weil ich ganz isoliert mir nicht merken ließ, dass ich mehr als 3 zählen könne und nur auf Gelegenheit zum Entwischen lauerte, so leidlich oder wohl gar so gut ging es doch die übrige Zeit. Ganz durch Zufall [Seume konnte nicht nur über-, sondern auch untertreiben] machte ich die Bekanntschaft einiger Honoratioren der Stadt, die mich so zu sagen wieder in die Schulmeisterei zogen. Ich gab Unterricht im Lateinischen, Griechischen und Englischen, wozu man mich fast zwang, und hatte die Ehre, obgleich bloßer gemeiner Flintenträger, von sehr guten, ja den meisten besten Gesellschaften zu sein.«
Wie die Entdeckung hatte auch die Enttäuschung mit Versen zu tun, diesmal nicht mit vergilischen, sondern welchen von Seume. Er hatte sie auf Friedrich II. gedichtet, nachdem der Preußenkönig im August 1786 gestorben war. Die Huldigung gelangte in Courbières Hände. Seume wird die seinen dabei im Spiel gehabt haben, auch wenn er in einem Brief an »Bruder« Korbinsky von Mitte Dezember 1786 unschuldig tut:
»Ich hatte mich da so hübsch empfohlen; unwissend, unschuldig und zufälliger Weise; denn [Du] weißt wohl, dass ich nicht zudringlich bin. Also ich hatte eine Gedächtnis-Rede und ein Gedicht auf den alten großen Friedrich geschrieben, die durch die dritte Hand vielleicht in des Generals Hände kam.«
Courbière setzte sich für eine Ernennung Seumes zum Offizier ein, doch scheiterte das »Avancement« des »gemeinen Flintenträgers« an aristokratischen Privilegien. Die Enttäuschung darüber steigerte sich zum Zorn, der Zorn schmolz das »Eisenjoch«. Anfang Januar 1787 schickte er Korbinsky den gereimten Fluchtvorsatz:
»Und soll ich bis mein graues Haupt sich bückt,
Und mir das Eisenjoch
Das Angesicht in hohle Falten drückt
Hier frohnen? – Sklav, ich zaudre noch!
Brutus du schläfst, erwache! – ruft mir tief
Mein Genius in das Ohr!
Ich höre dich; hah Schande, dass ich schlief!
Und hebe kühn die Faust empor,
Und brech es los mit meiner freien Hand
Das Band, das ein Tyrann
Hohnsprechend mir um Fuß und Nacken wand;
Wo nicht, so sterb ich denn als Mann!«
In Prosa setzte Seume hinzu:
»Du siehst hier die Lage meiner Seele! Es ist keine Poesie; es ist reifer Entschluss.«
Wie er ihn verwirklichte, berichtete er 1792 an Münchhausen:
»Der General v.Courbier […] hatte die Absicht, bei einem Avancement Rücksicht auf mich zu nehmen; aber der König schickte Offiziers aus dem [adligen] Kadettencorps, und meine Hoffnung war auf lange Zeit dahin. Gewöhnlicher Korporal hatte ich nicht Lust zu sein. Wäre der Wunsch des Generals damals erfüllt worden, so wäre ich jetzt vermutlich preußischer Offizier und auf immer im Dienste. Die Fehlschlagung wurmte mich; ich war jung, wagend, und ging in dem entsetzlichsten Wetter durch. […] Drei Tage schlug ich mich herum, und wurde wieder erwischt. Der Prozess wurde mir gemacht, und eine Probe, dass ich doch ziemlich im Kredit stand, ich lief nicht Gassen, sondern die Sentenz des Standrechts wurde auf Interzession in einen monatlichen Arrest bei Wasser und Brot verwandelt. Aber nie habe ich einen bessern Tisch gehabt, als diesen Monat. Ich gab der ältesten Fräulein von Courbier […] Unterricht i.d. Englischen. – Der General riet mir, wenn ich Gelegenheit hätte, den Dienst zu quittieren […] Ein guter Freund gab mir auf mein ehrliches Gesicht 50 Rth.[…] Ich ging mit Kaution auf Urlaub, und verstand sich kam nicht wieder, welches man gleich selbst vermutete.«
Der »gute Freund« – der Emdener Bürger Jacques Tapernon, dessen Kinder Seume unterrichtet hatte – bezifferte die Kaution für das »ehrliche Gesicht« in seinen Erinnerungen mit 35 Reichstalern. So wenig wert wollte Seume offenbar nicht sein. Und in der von fremden
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