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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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russischen Verhältnisse nach dem Tod der Zarin geschrieben, und ein weiteres Ueber das Leben und den Karakter der Kaiserin von Rußland Katharina II. Mit Freymüthigkeit und Unparteylichkeit ; Freund Münchhausen hatte Rückerinnerungen herausgegeben mit schlechten Gedichten von Seume und noch schlechteren von sich; Seume selbst hatte das zweite Bändchen der Obolen publiziert. Außerdem arbeitete er seit April 1797 bei Göschen als Korrektor und Lektor. Und seit Herbst 1796 war er auch noch verliebt, unglücklich, versteht sich, obwohl er einige Wochen brauchte, das zu begreifen, und etliche Jahre, um die Liebe zu Wilhelmine Röder endlich aus dem Leib zu laufen und sich die Geliebte, oder wenigstens ein Medaillon mit ihrem madonnenhaften Bild – vom Hals zu schaffen.
    In Göschens Verlagsbüro in Grimma saß Seume auf glühenden Kohlen, über Oden von Klopstock und Romane von Wieland gebeugt, manchmal hochfahrend, häufig niedergedrückt. Er wurde zum Tintenmann, der Buchstaben zählte statt Schritte, und sich mit edler Poesie herumschlug statt mit edlen Wilden in Halifax. Viereinhalb Jahre lang zerrte er an der Kette aus fremden Worten, dann ging er wieder auf und davon.
    Der entflohene Lektor
    Es gab viele Gründe für Seume, nach Syrakus zu marschieren:
     
um sich »das Zwerchfell auseinander zu wandeln, das ich mir über dem Druck von Klopstocks Oden etwas zusammen gesessen hatte«;
um »die sitzende literärische Lebensweise« abzustreifen;
um »das ganze Korrektorenwesen radicitus [zu] korrigieren«;
um »wieder etwas auf die Beine zu kommen«;
um »den Theokrit in die Tasche zu stecken und ihn in Syrakus zu lesen«;
um »den Theokrit bei einer Syrakuser Traube zu lesen«;
um »der Mediceerin ein wenig auf und in die Händchen und dem Vater Ätna in den Mund zu sehen«;
»um einige Oden des Horaz unter seinem Himmel zu lesen«;
um »einmal den klassischen Boden« zu durchwandern;
»bloß um an dem südlichen Ufer Siziliens etwas herumzuschlendern und etwa junge Mandeln und ganz frische Apfelsinen dort zu essen«;
»bloß um eine Grille zu befriedigen«;
um in Venedig »von süßem Rausche trunken« ein Gedicht auf ein Marmormädchen zu schreiben;
um auf dem Monte Pellegrino einem Rosenmädchen ein Autogramm »auf die Nasenspitze zu setzen«;
um »ein niedliches Madonnenbildchen an einer seidenen Schnur am Halse« auf den Monte Pellegrino zu tragen und dort in den Abgrund zu werfen;
nicht, »um vorzüglich Kabinette und Galerien zu sehen«;
nicht, um »eine topische, statistische, literarische oder vollständig kosmische Beschreibung von den Städten« zu geben;
    Alles in allem: Weil der Gang »lange Zeit eine meiner Lieblingsträumereien gewesen« ist, und »da ich zu Hause vor der Hand nichts vernünftigeres zu tun weiß«.
    Jede Position dieser kapriolenhaften Liste ist in der einen oder anderen Form von Seume angeführt worden, sei es im Spaziergang selbst oder in einem seiner Briefe in den Jahren vor und den Monaten während der Reise. In den Briefen vor der Flucht aus dem Büro über die Alpen den Stiefel hinunter wird Seume immer aufgedrehter, wenn es um das Gehen nach Italien – geht. Es ist wie Purzelbaumschlagen im Käfig. Aber bereits im Mai 1797, kaum im Kontor, lässt er Merkel wissen:
»Nun habe ich mich aber verbindlich gemacht, einige Zeit in Göschens Offizin als Korrektor zu arbeiten; dann gedenke ich nach Italien zu gehen und dann: quid futurum sit, cras [fuge quaerere – Was morgen sein wird, vermeide zu fragen; Horaz]. Je älter ich werde, desto leichtsinniger werde ich, oder vielmehr, desto leichter wird mein Sinn.«
Besuch beim Marmormädchen
Wann immer jemand sie im Museum besuchen kommt, schenkt sie gerade Ambrosia aus, denn Hebe ist die Göttin der Jugend. Ganz Anmut hebt sie den Arm mit der Karaffe in der Hand und zieht mit der Bewegung die linke Brust etwas nach oben. Sie steht auf einer steinernen Wolke, das heißt: Sie schickt sich gerade an, von dieser Wolke herabzusteigen. Dabei modelliert sich ein allerliebst vorgeschobenes Knie unter dem Steingewand. Schaut man zu ihrem Herabsteigen hinauf, kann der Blick leicht unter ihre Achsel fallen, auf eine zarte Hautfalte im Stein, verursacht durch den erhobenen Arm.
»Sie denken wohl, dass mich das Marmormädchen ein wenig außer mir gebracht hat; und so mag es allerdings sein«, schrieb Seume am 6. Februar 1802 aus Venedig an den Siez-Freund Böttiger. »Du denkst wohl«, fragt er seinen Duz-Leser im Spaziergang , »dass ich

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