Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
unterwegs und der entsprechenden Episode im Spaziergang Glauben schenken darf. Nach der Reise schmeckte er die Gefahr noch einmal bei ihrer Beschreibung, vor der Reise tat er sie als unwichtig ab. Er traf seine Vorbereitungen und setzte im Februar 1801 Gleim ins Bild:
»Auf künftige Weihnachten habe ich Göschen den Handel aufgekündigt; und er sieht selbst ein, dass ich mich, wenn ich so fort fahre, zusammen hypochondere und doch nichts gescheites zu Werke bringe.«
Im August schreibt er an Gleim:
»Die Zeit meiner Pilgerschaft rückt immer näher, und ich kann nicht [ver]bergen, dass ich mich darauf freue, nach so manchem durchsessenen Jahre wieder etwas auf die Beine zu kommen. Vielleicht tritt auch mein Kopf dabei in bessere Fugen, und die linke Seite [das Herz] erweitert sich. Man versitzt sich in die Länge an Leib und Seele. Der Maler Schnorr wird mein Gefährte sein bis Rom.«
Am 6. Dezember 1801 ist es schließlich so weit. Schon auf dem Sprung schickt er Göschen noch rasch ein Billett:
»Sonntag früh. Eben schnalle ich zusammen und gehe […] Der Himmel gebe mir das Glück Sie alle wohl wieder zu sehen.«
Das Glück hatte er nötig, der Gang war wirklich gefährlich, nicht nur wegen der Banditendolche und Wirtshausbetrügereien, sondern auch wegen der unsicheren politischen Lage infolge der napoleonischen Feldzüge. Sein Begleiter, der Maler Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld, brach die Reise in Wien ab und kehrte nach Hause zurück. Seume äußerte Verständnis:
»Schnorr hatte als Hausvater billig Bedenken getragen, den Gang nach Hesperien weiter mit mir zu machen. Man hatte die Gefahr, die auch wohl ziemlich groß war, von allen Seiten noch mehr vergrößert; und was ich als einzelnes isoliertes Menschenkind ganz ruhig wagen konnte, wäre für einen Familienvater Tollkühnheit gewesen. Komme ich um, so ist die Rechnung geschlossen und es ist Feierabend.«
Diese Stelle im Spaziergang ist keine Angeberei bei der nachträglichen Beschreibung glücklich bestandener Gefahr. Agonale Bemerkungen wie diese finden sich auch in den Briefen von unterwegs, als noch keineswegs klar war, wie er die vielen Abenteuer während der Reise überleben würde. Es hat den Anschein, als habe Seume mit der Idee gespielt, sich unterwegs ums Leben bringen zu lassen, wenn man es im Leben zu Hause schon zu nichts brachte. Als er seine »Personalität« dann doch heil nach Sachsen zurück »tornistert« hatte, wehrte er sich in der Vorrede zum Spaziergang gegen das kursierende Klischee vom verantwortungsscheuen Durchbrenner:
»Man hat mich getadelt, dass ich unstet und flüchtig sei: man tat mir Unrecht. Die Umstände trieben mich, und es hielt mich keine höhere Pflicht. Dass ich einige Jahre über dem Druck von Klopstocks Oden und der Messiade saß, ist wohl nicht eines Flüchtlings Sache. Man wirft mir vor, dass ich kein Amt suche. Zu vielen Ämtern fühle ich mich untauglich.«
Und am Schluss dieser im Nachhinein geschriebenen Vorrede zum Bericht über einen immerhin vier Jahre ersehnten und zwei Jahre geplanten Aufbruch redet er sich selber zu:
»Jetzt will ich leben, und gut und ruhig leben, so gut und ruhig man ohne einen Pfennig Vorrat leben kann. Es wird gewiss gehen, wie es bisher gegangen ist: denn ich habe keine Ansprüche, keine Furcht und keine Hoffnung.«
Letzte Ausflucht Weimar
Es ging tatsächlich. Aber erst nicht besser und bald viel schlechter als bisher. Die sieben Jahre, die Seume noch blieben, sind eher unter die mageren zu rechnen. Aber wann hätte er fette gesehen? Dass er weder Ansprüche habe noch Furcht noch Hoffnung, war Ausdruck der seelischen Sicherheitshocke, in die sich jemand fallen lässt, der erwartet, nichts mehr erwarten zu können. Diese Haltung mögen klassisch gebildete Leute ›stoisch‹ nennen. Doch ist dieses In-die-Knie-Gehen vor einer instabilen Zukunft kein Zeichen philosophischer Weisheit, sondern ein psychologischer Reflex. Mit ihm lässt sich Risiko minimieren. Wer in die Hocke geht, kippt nicht so leicht aus den Latschen.
»Ich habe für diese Welt nichts mehr zu hoffen, noch zu fürchten« schrieb Jean-Jacques Rousseau gegen Ende seines Lebens im »ersten Spaziergang« seiner Träumereien eines einsamen Spaziergängers . Sie waren auf Deutsch 1782 im Anhang einer Übersetzung der Bekenntnisse enthalten, und Seume dürfte sie gekannt haben. Jedenfalls benutzte er wie Rousseau die ›antike‹ Wendung, weil er daran interessiert war, möglichst wenig Interesse zu haben.
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