Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
Vom Netzwerk:
Inter-esse heißt Dazwischensein, in der Welt, zwischen den anderen; heißt teilnehmen und sich aussetzen, nicht nur den äußeren Gefahren der Welt, die Seume suchte, sondern auch den inneren Gefährdungen durch die anderen, die Seume floh.
    Das Aufrufen der Furcht- und der Hoffnungslosigkeit sowohl in Seumes persönlichen Briefen als auch in den publizierten Schriften funktionierte als mentale Parole, die ihm Zugang zu seinen Adressaten und seinem Publikum verschaffen sollte, ganz ähnlich, wie die militärische Parole dem Soldaten Zugang zum bewachten Lager verschafft.
    Die Formel signalisiert: Ich muss mich nicht mehr fürchten, auch nicht vor dir – und weil ich nichts erhoffe, auch nicht von dir, brauchst du mich nicht zurückzuweisen aus Angst, ich könnte etwas von dir wollen oder dir gar gefährlich werden.
    Vater Gleim war einer der wenigen Menschen, von denen Seume immer etwas wollte. Auch wenn er in seinem allerersten Brief an den »verehrungswürdigen Mann« geschrieben hatte:
»Ich weiß eigentlich nicht, was ich von Ihnen will; aber in meinem Innern schlug mirs zu, als wenn Gleim, der Menschenfreund, der Günstling der Musen, der Stolz seiner Nation, der Geliebte seines Königs für mich etwas tun könnte und wollte. Folgende zwei Gedichte übersende ich Ihnen […].«
    Na also. Mit seinem ersten Brief wollte er herausfinden, was der berühmte Dichter von den lyrischen Versuchen des kleinen Soldaten Johann Friedrich Normann in Emden hielt. Und mit dem Brief vor seinem Aufbruch nach Syrakus wollte er herausfinden, was er nach der Rückkehr von diesem Aufbruch mit und aus sich machen sollte:
»Sagen Sie mir einmal, als der wirklichste meiner Freunde, was ich mit meiner Existenz anfangen soll, damit ich etwas Gutes tue und zugleich für Leib und Seele Beschäftigung habe. Um Geld und Brot und gewöhnliche Ehre tue ich nichts, obgleich von allem diesem auch doch etwas sein müsste, weil es meine Verhältnisse wollen. Doch das alles ist noch Zeit, wenn ich in zwei Jahren von meiner Pilgerei zurückkomme. Meine Gedichte werden jetzt gedruckt […].«
    Göschen in seiner Doppelrolle als Arbeitgeber und Freund Seumes (wenigstens nicht auch noch Verleger, denn das war Johann Friedrich Hartknoch) machte sich nach dessen Rückkehr seine eigenen Gedanken – und ließ sie Böttiger wissen, dessen Sabina er gerade für den Druck vorbereitete: »In sechs Tagen ist alles gesandte Manuskript abgesetzt, wenn gleich noch nicht gedruckt. Der Seume soll schwitzen!«
    Seume hat geschwitzt. Aber zum letzten Mal, jedenfalls in Göschens Verlagskontor. Nach der Durchsicht von Böttigers Sabina nahm Seume keine Korrektorenarbeit mehr an. Er schrieb in größter Eile von Oktober 1802 bis Februar 1803 für den Verleger Hartknoch den Spaziergang , legte in der Zeitung für die elegante Welt im März Einige Blumen auf Gleims Urne , der im Februar gestorben war, erteilte Sprachunterricht, verliebte sich wieder unglücklich und machte erneut eine Tour, um die Liebe loszuwerden: diesmal nach Polen, über Litauen, Lettland und Estland nach Rußland, dann nach Finnland, über den Bottnischen Meerbusen nach Schweden, über den Sund nach Kopenhagen und schließlich über Kiel, Lübeck und Halberstadt zurück nach Leipzig. Das alles mehr in der Kutsche als auf Schusters Rappen. Über diese »nordische Reise«, wie es damals hieß, empörte sich Göschen wiederum in einem Brief an Böttiger, offenbar von der eigenen Anteilnahme am nicht korrigierbaren Schicksal seines ehemaligen Korrektors gereizt: »Das ärgert mich eben, dass der Mensch so sorglos in die Welt hineinspaziert. Ich meine sorglos, wegen der zukünftigen Tage seines Lebens. Er geht, um zu gehen, oder um etwas zu vergehen. Ergehen wird er sich nichts.«
    Vom sogenannten ›bürgerlichen Standpunkt‹ ist Göschens Unmut verständlich, doch folgte Seume seinem Bewegungstrieb auch deshalb, weil er dem Liebestrieb zu seiner glücklos Erkorenen eben nicht folgen konnte und diese Abweisung – da hatte Göschen ganz recht – »vergehen« musste, damit sie verging.
    Die »nordische Reise« schrieb Seume wie die südliche mit fliegender Feder. Mein Sommer 1805 erschien im Folgejahr und wurde wegen der renitenten Vorrede mit ihren Angriffen auf Klerus und Adel in Süddeutschland, Österreich und Russland sofort verboten.
    Im April 1806 begann Seume mit der Arbeit an den Apokryphen , die zu seinen Lebzeiten gar nicht, und in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod nur verstümmelt

Weitere Kostenlose Bücher