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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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nicht einfallen, dieses für eine Reisebeschreibung zu nehmen: es soll nur ein kleines Dokument sein, dass Ihr Freund noch nicht ganz tot ist und in der Tat noch zuweilen eine Art von regsamer Lebenskraft in sich verspüret, die sich vielleicht wieder festsetzen und ihn aufrichten kann.«
    Als das »kleine Dokument« von Tiedge in einem der damals so beliebten Jahresalmanache publiziert wurde, war Seume gestorben. Der letzte von ihm selbst vollendete Text handelte noch einmal von einer Ausfahrt, so, wie schon sein erster veröffentlichter Text von einer Ausfahrt gehandelt hatte: jener nach Amerika.

Zweites Kapitel Welterfahrung

    Verschiffung nach Halifax – Fußmarsch nach
Syrakus – Kutschfahrt nach Norden

»Ob ich aber meine kleine Erfahrung nicht gern mit einer warmen Stube, einem guten Schlafpelze, einem artigen Mädchen, einem einträglichen Dienstchen und seinen Appendixen vertauschte? das kann ich so stracks nicht bestimmen; vermutlich!«
– Schreiben aus America –

»Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen.«
– Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 –

»Diesmal habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht.«
– Mein Sommer 1805 –

Manchen guten Ratschlägen folgt der Spott auf dem Fuße und verwandelt sie in Ironie. So ist es auch bei Seume. Nach dem Rat »Bleib zu Hause«, mit dem er sein Schreiben aus America eröffnet, macht er sich sofort über die Leute lustig, die ihn befolgen:
»Es ist viel bequemer die Abenteuer anderer hinter dem Ofen im Schlafrocke und der Nachtmütze zu durchblättern, als selbst nur den geringsten Anhang davon zu bestehen.«
    Die innere Imaginierung des Schriftstellers Seume ist mit seiner äußeren Inszenierung untrennbar verwoben. Welterfahrung und Selbsterkenntnis sind ein einziger Vorgang, auch wenn der Überwältigung des Selbst durch die Welt nur mit einem inneren Kern standzuhalten ist, der sich nie verliert, so weit man auch fährt. Man muss sich mitnehmen, um unterwegs bei sich zu bleiben. Das heißt jedoch auch, dass man sich nie loswerden kann, man mag laufen, wohin man will.
    Die beiden großen Reisebücher, der Spaziergang und Mein Sommer 1805, sind flankiert von den beiden kleinen Reiseberichten Ausflucht nach Weimar und Schreiben aus America am Ende und zu Beginn von Seumes literarischer Karriere. In allen vier Texten treibt Seume sich in der Welt (und der Weltgeschichte) herum, und in keinem hat er sich gefunden – allenfalls so vorläufig, dass er dem bei nächstbester (oder schlechter) Gelegenheit wieder nachgehen und hinterherrennen musste.
    So brachten die Abenteuer seines Lebens seine Schriften hervor; und seine abenteuerlichen Schriften machten etwas aus seinem Leben.
    Verschiffung nach Halifax
    Im ersten Brief, den Seume alias »Joh. Friedr. Normann« im Oktober 1786 als preußischer Soldat an Gleim in Halberstadt schrieb, hieß es:
»Ich verließ die Universität ohne äußere Beweggründe, als ich nicht viel über ein Jahr da gewesen war, bloß weil ich glaubte, die Weisheit der Hörsäle sei lange nicht so gut mich zu bilden als Welt und Erfahrung.«
    Aber was erfährt man, wenn man über einen Ozean geschippert wird, tagsüber Matrosenarbeit verrichtet oder im Mastkorb schaukelnd die Nase in einen Band Vergil steckt, nachts »gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe« in Verschläge gepfercht nach Schlaf sucht; das alles bei mit zunehmender Fahrtzeit abnehmenden Rationen aus hartem Speck, klebrigen Bohnen, Zwieback aus dem Siebenjährigen Krieg und stinkendem, von fauligen Schlieren durchzogenem Wasser – was erfährt und erlebt man unter solchen Bedingungen? Die erhabene Majestät des Meeres, bis sie sich während der Reise in die unendliche Öde des Ozeans verwandelt; die Seestürme als Probe darauf, ob Vergil sie in seiner Aeneis richtig geschildert hat; und jede Menge Leute, ganz andere als die im zivilisierten Klein Paris mit seinen Kaufleuten, Buchhändlern und Studenten, nämlich »wunderliche Caricaturen an Geist und Leib aus allen Reichen von Europa«. Viele Wochen sind mit diesen Leuten auszuhalten, tagsüber bei Wind und Wetter an Bord, nachts unter Deck im bedrängendsten Wortsinn hautnah:
»Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann; man denke die Menage. Wenn viere darin lagen, waren sie voll; und die beiden letzten mussten hinein gezwängt werden […] es war für einen

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