Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
erscheinen konnten. Im Oktober 1806 marschierte er von Leipzig über Dresden nach Berlin, wo er zum letzten Mal mit seinem Freund Garlieb Merkel zusammentraf, dem Herausgeber der antinapoleonischen Zeitschrift Der Freimüthige , für die auch Seume geschrieben hatte. Nach Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt floh Merkel gerade noch vor der Besetzung Berlins durch französische Truppen in seine Heimatstadt Riga. Das war keine übertriebene Reaktion. Immerhin war Ende August in Braunau am Inn der Nürnberger Verlagsbuchhändler Johann Philipp Palm wegen der in seinem Laden gefundenen anonymen Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung auf Anordnung Napoleons standrechtlich erschossen worden.
Im Jahr 1807 beugte sich Seume über das Werk des bewunderten griechischen Geschichtsschreibers Plutarch und verfasste – sicherheitshalber auf Lateinisch – eine weitere seiner rebellischen Vorreden, die sich gegen Napoleon und die ihm hörigen deutschen Fürsten richtete. Sie konnte wie die Apokryphen trotz der dem großen Publikum fremden Gelehrtensprache zu Seumes Lebzeiten aus politischen Gründen nicht erscheinen.
Im Dezember 1807 begrub er seine Mutter. Über Ostern 1808 wanderte er von Leipzig nach Dresden. Es war sein letzter großer »Spaziergang«. Im Juni brach die Blasen- und Nierenkrankheit aus, die er sich – vermutlich – auf seiner Kutschfahrt nach Norden geholt hatte. In den beiden Jahren, die ihm noch blieben, machte er sich an seine Autobiographie, freute sich über die dritte, erweiterte Auflage seiner Gedichte und freute sich nicht über das Gedicht Kampf gegen Morbona, bei der Genesung niedergeschrieben von J.G.S. im Februar 1809 , das ein Bekannter, der Schriftsteller Christian August Tiedge, ohne sein Wissen veröffentlicht hatte. Im Vorwort zu den Gedichten ergriff er die Gelegenheit, den übereifrigen Tiedge zu tadeln und einige von dessen Behauptungen, zum Beispiel die über eine Fußverletzung, zurechtzurücken:
»Mein schadhafter Fuß ist der linke und nicht der rechte; die Schußwunde an demselben habe ich nicht im Gefecht erhalten, und das Hauptübel ist eine Contusion unten am Knöchel.«
Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als Seume mit einem »schadhaften Fuß« nach Syrakus »spaziert« ist. Dass es der linke war, wird im Spaziergang erwähnt, als er ihn auch noch verrenkte. Die alte und die neue Verletzung rücken die physische Leistung dieses ›Lebenslaufs‹ einschließlich der strapaziösen Besteigung des Ätna doch in ein besonderes Licht, mögen auch heutige Nachrechner die Zahl der Meilen, die dabei per pedes zurückgelegt wurden, für geringer ansetzen, als Seume seinen Lesern halb vorgerechnet, halb vorgemacht hat.
Den publizistischen Übergriff hat Seume dem sehr um ihn bemühten Tiedge offenbar nicht nachgetragen. Sonst hätte er ihm nicht einen ausführlichen Brief über seine Fahrt nach Weimar geschrieben:
»Endlich, lieber Tiedge, habe ich nach einigen Jahren, die ich kränkelnd hinlungerte, wieder eine Art von Ausflucht gewagt: aber welcher Abstand! Sonst machte ich einen Spaziergang nach Syrakus, jetzt mache ich eine Reise nach Weimar; und das letzte ist dennoch ein größeres Wagstück als das erstere: so ändern sich die Zeiten.«
Die Kutscherei wurde zur Qual:
»Jeder Wagenstoß drohte mir die Symphysis zu sprengen, unter den entsetzlichsten Schmerzen. Das Bedürfnis nötigte mich oft hinaus, und der Sturm schickte mich immer etwas fieberhafter wieder hinein in den Kasten.«
Die feuchte Fahrt wurde zu einer Reise in die Vergangenheit, und der Wagen zu einem Guckkasten der Erinnerung. Aber nicht zu einem, in den man hinein-, sondern aus dem man herausschaut:
»Sodann blieb meine Seele auf den alten Dorfkirchhof geheftet, wo wir seit langen, langen Jahren meinen Vater begraben. […] Der Schauer der Natur fasste mich; das Rückenmark fing an in dem Nacken zu glühen, und die Wimper fing an feucht zu werden. Ich warf mich in den Winkel des Wagens, zog den Mantel der Windseite zu, und überließ mich ohne Widerstand der Fortwirkung dessen, was in mir erregt worden war. Einige Tropfen mochten wohl dem Auge entglüht sein, augenscheinlich auch mit ein Dokument meiner jetzigen Schwäche im Nervensystem; denn ich glaube nicht, dass ich überzeugungsweise in meinem Alter ein Empfindler werde; als ich von außen den Regen ziemlich stark an die Kutsche schlagen hörte. Diese Tropfen des Himmels trockneten […] die meinigen in dem Auge.«
Diese außergewöhnliche
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