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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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Einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden und eben so unmöglich, auf dem Rücken zu liegen.«
    Wie lange lässt sich das aushalten? Im Schreiben aus America gibt Seume die Fahrtdauer mit siebzehn Wochen an, in Mein Leben sogar mit zweiundzwanzig. In Wahrheit werden es wohl knapp zehn Wochen gewesen sein, wie mithilfe zeitgenössischer Quellen nachgerechnet worden ist – immer noch eine lange, sehr lange Überfahrt. Sie wurde für Seume zu einer Entdeckungsreise, nicht etwa zu einer, auf der er viel entdeckt hätte, sondern zu einer, auf der er selbst entdeckt wurde: auf dem Schiff von einem väterlichen Kapitän und im Lager von Halifax von einem brüderlichen Offizier.
    Auf dem Schiff sitzt er Horaz lesend einem Steuermann im Weg, der das schmächtige Kerlchen brutal verscheuchen will. Der Kapitän kommt dazu, wirft einen Blick ins Buch, heißt den Jungen sitzen bleiben und fragt erstaunt:
»You read latin, my boy? – Yes, Sir. – And you understand it? – I believe, I do.«
    Von nun an füttert der Kapitän Seume mit Büchern aus seiner Reisebibliothek, und was noch wichtiger ist: Er füttert ihn auch heimlich mit Extraportionen Rindfleisch. Bei der sonstigen Verköstigung »ein sehr wohltätiges Stipendium«, wie Seume in Mein Leben schreibt. Nicht immer ist das Schöngeistige eine brotlose Kunst.
    In der Schilderung des Zwistes mit dem Steuermann und des helfenden Eingreifens des Kapitäns drückt sich eine politische Grundüberzeugung aus, von der sich Seume sein Leben lang nicht emanzipieren konnte. Auch deshalb nicht, weil die Einsicht in strukturelle Machtverhältnisse von persönlichen Abhängigkeiten verstellt war. Für Seume sind es immer die mittleren Herren, die für die schlimmsten Übel verantwortlich sind: Auf dem Schiff die Steuermänner, in der Garnison die Offiziere, auf dem Land die Pächter, in der Stadt die Beamten, im Staat die privilegierten Aristokraten. Seume macht Kapitäne, Generäle und Minister, Fürsten, Könige und Zaren nur bedingt verantwortlich für den Missbrauch der Macht durch untergeordnete Obrigkeiten und durch Menschen, die »ein Privilegium auf der Nase tragen«. Er hat in Briefen und Schriften Generäle verteidigt, denen er diente, und auch solche, denen er nicht diente. Er hat Zaren in Schutz genommen und Könige gelobt. Alles in der vorrepublikanischen Tradition einer Aufklärung, der die Verkörperung der Macht in einer Institution (der Monarchie) und in einer Person (des Königs) die beste Garantie gegen Übergriffe der Zwischengewalten zu sein schien, mit denen man es im Alltag zu tun bekam. Steht man unter dem Schutz des Kapitäns, muss man sich vom Steuermann nicht mehr alles gefallen lassen.
    Nachdem Seume dank Kapitänsprotektion und Rindfleischstipendium halbwegs über die Runden gekommen war während der langen Fahrt über den großen Teich, freundete er sich im Lager von Halifax mit dem nur vier Jahre älteren Freiherrn von Münchhausen an. Wie später noch öfter, etwa bei den an die Zellenwand geschriebenen Versen nach seiner Desertion oder bei den Gedichten auf Friedrich den Großen, die einem General in die Hände fallen, kommen ihm die Reime, die er sich aufs Leben macht, in ebendiesem zugute. Mit Poesie in der Hand kann er sich in der Phantasie aus dem schlechten Dasein stehlen, und in der Wirklichkeit wird er durch sie besseren Kreisen zugeführt. Davon erzählt Seume mit schlitzohrig gekonnter Naivität, konkret und sinnbildlich zugleich in Mein Leben :
»In dieser Zeit machte ich Münchhausens, oder er vielmehr meine Bekanntschaft. Ich saß im Zelte und wärmte mich gegen die nasse Kälte etwas an Flakkus Odenfeuer, da schlug ein Offizier den Zeltflügel zurück und fragte, ob ich der Sergeant Seume wäre. Da ich denn der war, hieß er mich herauskommen. Ich warf mich in die Ordonnanz und trat hervor; er belugte mich etwas neugierig, fasste mich am Arm, und fort gings […] In seinem Zelte lagen auf dem Tische einige Verse, die er mir hingab, und mich fragte, ob sie von mir wären. Ich besahe sie und sagte ja. Es war eine tragikomische Elegie über unser Leben im Lager, die, wie der Gegenstand selbst, lächerlich-weinerlich genug sein mochte. Wir müssen bekannt werden, sagte er: sehr gern, sagte ich. Er bat mich auf ein Stückchen Wildbraten […] den Abend zu Tische; und da in meinem Zelte Schmalhans Küchenmeister war, so kam mir die Einladung sehr willkommen. […] Sein Beifall war nun meine beste Belohnung, und seine Kritik meine

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