Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
beste Belehrung. Ich begriff, dass bloße Schule nicht alles sei; und er fand, dass die Schule doch vieles sei […] Es hatte sich ein freundschaftlicher Zirkel von Offizieren gebildet, in den man mich unvermerkt fast unzertrennlich hinein zog, und mit vieler Herzlichkeit behandelte.«
In diesem Kreis konnte Seume als junger Mann einüben, was er als immer noch nicht alter gegen Ende seines Lebens in den Apokryphen so zusammenfasste:
»Die beste Philosophie ist der geläuterte Menschenverstand; das beste Mittel dazu, die Welt sehen, die Geschichte lesen und selbst denken in gleichen Verhältnissen. Werden die Verhältnisse nicht beobachtet, so kommt das Resultat unkosmisch.«
Auf die Mischung also kommt es an zwischen überliefertem Wissen, eigenem Denken und Welterfahrung. Erst wenn die Kombination stimmt, wird es »kosmisch« oder »magisch«, wie Seume auch gerne sagt, wenn er begeistert ist.
Den neu gewonnenen poetischen Freund Münchhausen hat Seume beim Welterfahren dann aus den Augen verloren und trotz der Briefe und Gedichte, die man später austauschte, erst bei der Rückkehr von Syrakus wiedergesehen.
Fußmarsch nach Syrakus
So vielfältig die Gründe sein können, nach Syrakus zu reisen, so vielfältig ist die Typologie der Reisenden selbst: Es gibt:
»Müßige Reisende,
Wissbegierige Reisende,
Lügnerische Reisende,
Dünkelhafte Reisende,
Eitle Reisende,
Milzsüchtige Reisende.
Alsdann folgen die Reisenden aus Notwendigkeit.
Der pflichtvergessene und schurkische Reisende,
Der unglückliche und unschuldige Reisende,
Der einfache Reisende,
Und endlich (mit Verlaub) Der Empfindsame Reisende (worunter ich meine eigene Wenigkeit verstehe)«.
Bei der kokettierenden Wenigkeit handelt es sich nicht um Seume, obwohl der seine »Personalität« beim Schreiben auch gern kleiner gemacht hat, um im Leben etwas größer zu wirken. Der prätouristische Musterbogen des Reisens stammt von einem gewissen Mr. Yorick. Jedenfalls steht auf dem Deckel des Reisebuches, dem die Passage entnommen ist, dieser Name – ein Name, wie er auch im Buche steht, in Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman . Dort figuriert der Landpfarrer Yorick als geduldiger Zuhörer von Tristram Shandys leiblichem Vater und zugleich als literarischer Wiedergänger von Tristram Shandys geistigem. Laurence Sterne reiste als Mr. Yorick durch Frankreich und Italien – wenigstens wird das im Titel A Sentimental Journey – Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien versprochen. Im Buch selbst erreicht Yorick Italien nicht.
Dass Sterne, der empfindsame Spötter, im Tristram Shandy und in der Sentimental Journey ausgerechnet unter dem Namen Yorick posiert, ist ein Spaß, der von Shakespeare herrührt. Yorick war im Prinz von Dänemark des Königs Spaßmacher. Sein Schädel wird von Totengräbern zutage gefördert und gibt Hamlet Gelegenheit zu etlichen halbphilosophischen Friedhofswitzen. Wieland, vor den Romantikern der wichtigste sprachliche Importeur des Genies aus Stratford, mochte die makabren Kalauer nicht und »würde diese ganze Scene eben sogern ausgelassen haben, wenn man dem Leser nicht eine Idee von der berüchtigten Todtengräber-Scene hätte geben wollen«. Also hat er übersetzt, wenn auch ungern und gekürzt: »Hamlet. (Indem der Todtengräber immer singend einen Schedel aufgräbt.) Dieser Schedel hatte einst eine Zunge, und konnte singen.«
Vom Friedhof bei Shakespeare führt ein Weg nach Syrakus, allerdings über Riga. Vor der Stadt, am Düna-Strand, hatte Seume einst einen Totenkopf gefunden und darüber einen Text geschrieben, den er in seinen Bericht über die Vorfälle in Polen 1794 einrückte:
»Dieser Kasten enthielt vielleicht Systeme von Hirnweben, so sinnreich und bunt, als sie je ein alter oder neuer Weiser oder Narr gesponnen.«
Nach der flüchtigen Anspielung auf Yoricks Narrenschädel beginnt Seume à la Hamlet zu sinnieren, wer in diesem hohlen Hirnkasten, den er nun in Händen hält, einst gelebt und gewebt, gedacht und gefühlt haben mag: Herr oder Sklave, Richter oder Gerichteter, Wohltäter oder Unterdrücker oder
»eine von den Millionen Nullen zwischen beiden. Du bist meiner Verwandtschaft, und bei uns ist das Äußerste erblich; wir sind Engel und Teufel. Ich weiß nicht, wo du jetzt bist; aber ich werde zu dir kommen.«
Der kleine Text taumelt zwischen Tiefsinn und Witz, kostet lüstern das Grauen aus bei der Vorstellung, dass einst Mädchenhände das Kopfgebein gestreichelt
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