Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
haben, macht Bocksprünge quer durch die Geschichte der Menschheit und schließlich hinüber ins Nichts nach dem Ende des eigenen Lebens. Zwischen den Zeilen steht Hamlet und grinst. Im Spaziergang nennt Seume ihn dann expressis verbis »einen seiner Lieblinge«.
Seume hat nicht nur seinen Shakespeare gekannt, und den von Wieland, sondern auch den Tristram Shandy und das Reisebuch von Mr. Yorick alias Sterne. Im Spaziergang wird Yorick einmal erwähnt – so beiläufig, dass die Stelle heute befremdet, sich damals aber bei der Berühmtheit Sternes/Yoricks von selbst verstand.
Nach dem kultischen Erfolg des Tristram Shandy wurde auch die Sentimental Journey nach dem Erscheinen 1768 zu einem europäischen Bestseller. Das Büchlein hat das Genre der Reiseliteratur auf den Kopf gestellt. Oder sollte man sagen: aufs Herz? Denn Empfindung und Gefühl bestimmten nun das erzählte Reisen, die Sachlage wurde nach Seelenlage geschildert. Der alternde Goethe hat das im Rückblick auf jene Jahre präzis zusammengefasst, auch um die Intention seiner eigenen, erst 1816/17 vollständig erschienenen Italienischen Reise davon abzugrenzen: »Seit Sternes unnachahmliche Sentimentale Reise den Ton gegeben und Nachahmer geweckt, waren Reisebeschreibungen fast durchgängig den Gefühlen und Ansichten des Reisenden gewidmet. Ich dagegen hatte die Maxime ergriffen, mich so viel als möglich zu verleugnen und das Objekt so rein als nur zu tun wäre in mich aufzunehmen.«
Goethe nimmt das von Sterne geschaffene englische Kunstgebilde »sentimental« auf Deutsch beim Wort. Doch verdankte es seinen Einfluss beim deutschen Publikum der von Lessing angeregten Übersetzung »empfindsam«. Dieses neue Wort passte so genau zu einer ebenfalls neuen, der alten Aufklärung überdrüssigen Geistes- und Gemütsstimmung, dass es heute als Epochenbegriff verwendet wird: »Empfindsamkeit« – meistens Arm in Arm mit »Sturm und Drang«.
Dem »Sturm und Drang« ist auch Goethes 1774 erschienener Werther zuzurechnen, den Seume während seiner eigenen Leipziger Sturm-und-Drang-Tage verschlungen hat. Das Echo des Werther -Sounds klingt noch durch die Vorrede des Spaziergang . Goethe ermunterte, »lass das Büchlein deinen Freund sein«, und fügte süffisant hinzu: »wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.« Seume bittet zaghaft: »Ich hoffe, Du bist mein Freund oder wirst es werden«, und geht sofort in Deckung: »ist nicht das eine und wird nicht das andere, so bin ich so eigensinnig zu glauben, dass die Schuld nicht an mir liegt.«
Während die »Empfindsamkeit« auf Lessings glücklicher Eindeutschung des »sentimental« beruht, ist »Sturm und Drang« abgeleitet vom Titel eines Theaterstücks von Friedrich Maximilian Klinger, das zwei Jahre nach dem Werther Furore machte. 1803, im gleichen Jahr wie der Spaziergang und wie Seumes Reisebuch bei Hartknoch, erschienen Klingers Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur , aus Angst vor der Zensur allerdings mit der fingierten Verlagsangabe Peter Hammer, Köln. Seume schrieb darüber in der Zeitung für die elegante Welt :
»Der gute alte Peter Hammer von Köln muss jetzt manchem Wicht seinen Mantel leihen, seine geistigen Sterbelinge auf den literärischen Markt zu bringen, ehe die prämaturen [frühreifen] Dinger zu Hause absterben: aber hier hat ihn auch einmal ein Athlet umgehangen, den wir lieber ohne solche Hülle in seiner ganzen ursprünglichen Kraft sähen. […] Der Verfasser zeigt sich als Dichter und Weltmann in hohem Grade, und beide werden vom Denker beherrscht«.
Was den erfundenen Kölner Verleger Peter Hammer angeht, so stammten dessen ebenfalls erfundene Vorfahren aus Frankreich. Seit dem 17.Jahrhundert war »Pierre Marteau« der Deckmantel für Verleger unerlaubter Schriften. Dass man im Deutschland der Spätaufklärung die deutsche Übersetzung ins Impressum zensurbedrohter Bücher druckte, demonstriert lange gereiftes Selbstbewusstsein. Noch musste fingiert werden, wenn man sich keine Unannehmlichkeiten zuziehen wollte. Aber dass fingiert werden musste, wurde nicht mehr verborgen, sondern offen und anklagend zur Schau gestellt.
Klingers Buch hatte großen literarischen Einfluss auf die Apokryphen , an denen Seume in den letzten Lebensjahren arbeitete, obwohl Seumes persönliche Beziehung zu Klinger glücklos war, sowohl während seiner Kutschfahrt nach Norden im Jahr 1805 als auch bei den Bemühungen gegen
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