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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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Ende seines Lebens, doch noch eine Pension des Zaren für den Militärdienst in Polen zu erwirken.
    Der Marsch nach Syrakus ist ohne Sturm, Drang und Empfindsamkeit denkbar, das Buch darüber nicht. Doch schlägt Seume weder den empfindelnden Ton an, der seit Sternes Tagen von der Mode zur Manier zur Masche herabgesunken war, noch markiert er das stürmische Kraftgenie. Er schreibt einfach darüber, was er beim Reisen von der Welt und über sich selbst erfahren hat.
    Trotzdem ist er nicht ohne Vorbereitung nach Syrakus gelaufen. Bevor er vom Lektorenstuhl sprang und den Tornister packte, betreute er Karl Gottlob Küttners Reise durch Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen und einen Theil von Italien, in den Jahren 1797. 1798. 1799 . Diesem Werk, auf das er sich sowohl im Spaziergang als auch in Mein Sommer bezieht, verdankte er eine Reihe von sachdienlichen Hinweisen, von denen er während der Reise Gebrauch gemacht hat, wenn auch nicht immer beim Erzählen von ihr. Gleiches gilt von ungenannt bleibenden Kunstreiseführern wie von historischen Werken über die Geschichte Italiens.
    Ausdrücklich erwähnt indessen sind die in drei Bänden von 1787 bis 1792 erschienenen Briefe über Calabrien und Sizilien von Johann Heinrich Barthel und die Nachrichten von Neapel und Sizilien, auf einer Reise in den Jahren 1785 und 1786 gesammelt von Friedrich Münter (1790), den dann auch Barthels in der zweiten Auflage seiner Briefe anführt.
    Alles in allem war Seume ein gut informierter Wanderer. Keineswegs ist er losmarschiert ohne ›Bücherwissen‹ im Kopf, nur mit antiken Klassikern im Sack:
»als a) Ein alter Homer, b) ein abgenutzter Theokrit, c) ein funkelnagelneuer Anakreon, d) ein alter Plautus, e) ein Horaz, f) ein Vergil, g) ein Tacitus, h) ein Sueton, i) ein Terenz, k) ein Tibull, Catull und Properz in minima«.
    So die Bestandsliste der Tornisterbibliothek, wie Seume sie während des Aufenthalts in Prag im Dezember 1801 für Göschen zusammenstellte.
    Zum »kosmischen Verhältnis« in der Seume’schen Variante des gesunden Menschenverstands gehörte neben dem Erfahren der Welt und dem Selbstdenken auch das Lesen der Geschichte. Man sieht nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Kopf, Erkennen setzt Wissen voraus. Die wünschenswerte Alternative zum erfahrungsresistenten Spazierenführen angelesener Vorurteile ist nicht das kenntnis- und zusammenhanglose Sammeln sinnlicher Eindrücke, sondern ein Verstehen, das der Fremde (und den Fremden) mit Herz und Kopf auf den Leib rückt. Alles was bloß Programm ist, und sei es ein aufklärerisches, führt dazu, dass im Erleben die Begriffe klappern; alles was bloß Haltung ist, und sei es eine empfindsame, verunklart das Wahrnehmen durch Sentimentalität.
Fußwandeln als Lebenswandel
Seumes Philosophie der Fußgängerei ist eine Kutschengeburt. Er schrieb sie nieder, als er nicht mehr laufen konnte, jedenfalls nicht mehr weit.
»Diesmal habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht«, heißt es in der Vorrede zu Mein Sommer 1805 . »Lieber wäre es mir und besser gewesen, wenn meine Zeit [und seine Gesundheit, die er unerwähnt lässt] mir erlaubt hätte, das Ganze abzuwandeln. Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. […] Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne, und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. […] Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man tut notwendig zu viel oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«
Was hätte Seume wohl zu Eisenbahnen gesagt? Oder zu Autos? Von Flugzeugen gar nicht zu reden. Wenn mit »ursprünglicher Humanität« die zweibeinige Fortbewegung gemeint ist, entfernen wir uns von ihr ohne auch nur einen Schritt zu tun rasend im Sitzen. An speziellen Orten kehren wir dann trainingshalber zum aufrechten Gang zurück. Man stelle sich Seume im Fitnessstudio vor: um sich herum schwitzende Leute, die auf Laufbändern rennen.
Vielleicht wäre in unserer Beschleunigungsepoche dieses Laufen auf der Stelle die angemessene Daseinsmetapher, so wie jahrhundertelang die Pilgerschaft das Sinnbild

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