Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
nunmehr nur eine drollige Reminiszenz meiner ersten Seefahrt nach Amerika.«
Auf dem weiteren Weg durch Böhmen kommt es dann zum ersten Mal im Spaziergang zu jenem Ton, der sich angesichts der Not in Sizilien zu galliger Empörung steigert. Diese Aufwallungen sind so herzzerreißend wie hilflos, aber sie machen Seume unvergesslich in der beschämend schmalen Tradition sozialkritischer Schriftstellerei im Deutschland um 1800:
»Die Dörfer lagen dünn, und waren arm; noch mehr als in dem Gebirge. Man drosch in den Herrenhöfen auf vielen Tennen« – gezwungen von der Fron, die trotz der josephinischen Aufhebung der Leibeigenschaft 1781 immer noch geleistet werden musste – »und die Bauernhäuser waren leer und verfallen; die Einwohner schlichen so niedergedrückt herum, als ob sie noch an dem härtesten Joche der Sklaverei zögen. Mich deucht, sie sind durch Josephs wohltätige Absichten wenig gebessert [bessergestellt] worden, und höchst wahrscheinlich sind sie hier noch schwerer durch die Fronen gedrückt als irgendwo.«
In Prag erhält Seume, noch in Begleitung seines Freundes Schnorr von Carolsfeld, die erste Warnung vor Wegelagerern. Je weiter es nach Süden geht, desto ärmer werden die Landstriche, desto »gedrückter« die Leute, desto rabiater die Räuber. Zwischen Wien und Graz trifft er auf Dutzende Gefangene in Ketten, von einem starken Militärkommando bewacht; zwischen Triest und Venedig kündigt man ihm an, er werde »nun wohl ein bisschen tot geschlagen werden«; hinter Ancona »waren die Arme und Beine der Hingerichteten häufig genug hier und da zum Denkmal und zur schrecklichen Warnung an den Ulmen aufgehängt«; hinter Tolentino steigt er durch Schluchten, »und hier und da aufgehangene Menschenknochen machten eben nicht die beste Idylle«; hinter Spoleto »unterhielt man mich überall mit Räubergeschichten und Mordtaten«, auch, um ihm »einen Maulesel mit seinem Führer aufzuschwatzen«; bei Sessa sieht er »einige bis auf die Zähne abgedorrte Köpfe in eisernen Käfigen an dem Felsen befestigt«; auf dem Weg nach Caserta sagt man ihm, die Gefahr werde übertrieben; in Caserta wundert man sich, »dass ich den Räubern noch nicht in die Hände gefallen wäre«. Von Neapel lässt er sich mit dem Schiff nach Palermo übersetzen, und auf Sizilien, noch bevor er Syrakus erreicht, kommt es zu dem Überfall, den der Wanderer lange befürchtet und der Leser lange erwartet hat:
»Man rief mir Halt! und da ich tat, als ob ich es nicht gleich verstanden hätte, ritt einer [der drei Räuber] mit Vehemenz auf mich zu, fasste mich beim Kragen und riss mich so heftig herum, dass das Schisma noch an meinem Rocke zu sehen ist. Wer seid Ihr? – Ein Reisender. – Wo woll Ihr hin? – Nach Syrakus. – Warum reitet Ihr nicht? – Es ist mir zu teuer, ich habe nicht Geld genug dazu.«
Die Banditen durchsuchen seinen Tornister und finden nichts als Bücher, trockenes Brot, harten Käse, zwei Hemden und ein Notizbuch. Das will der Chef des Trios an sich nehmen. Seume protestiert:
»Aber das ist mein Tagebuch mit einigen Reisebemerkungen für meine Freunde.«
Zum Glück bekommt er das Bändchen zurück. Wie hätte Seume sonst »ein Büchelchen aus meinem Tagebuche« machen sollen, wie er Gleim bald nach seiner Rückkehr brieflich ankündigte. Der sizilianische Gauner hat sich wirklich um den Spaziergang nach Syrakus und die deutsche Literatur verdient gemacht. Seumes Uhr und sein Geld haben die Räuber gar nicht erst gefunden. Sehr professionell scheinen sie nicht gewesen zu sein, oder sie waren überzeugt: bei dem ist sowieso nichts zu holen. Sie laden den armen Schlucker zu einem Schluck aus der Flasche ein und lassen ihn laufen – erst nach Syrakus und dann nach Palermo. Von dort fährt Seume mit dem Schiff nach Neapel zurück, steigt in eine Kurierkutsche und rattert nach Rom. Unterwegs muss ein Rad repariert werden, Seume in seiner Rastlosigkeit läuft voraus und wird zum zweiten Mal überfallen. Die Banditen sind zu viert:
»Einer fasste mich bei der Krause, und setzte mir den Dolch an die Kehle, der andere am Arm, und setzte mir den Dolch auf die Brust; die beiden übrigen blieben dispositionsmäßig in einer kleinen Entfernung mit aufgezogenen Karabinern. In der Bestürzung sagte ich halb unwillkürlich auf Deutsch zu ihnen: Ei so nehmt denn ins Teufels Namen alles, was ich habe! Da machte einer eine doppelt grässliche Pantomime mit Gesicht und Dolch […] In Eile nahmen sie mir nun die
Weitere Kostenlose Bücher