Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Börse und etwas kleines Geld aus den Westentaschen […] Nun zogen sie mich mit der vehementesten Gewalt nach dem Gebüsche, und die Karabiner suchten mir durch richtige Schwenkung Willigkeit einzuflößen. Ich machte mich bloß so schwer als möglich, da weiter tätigen Widerstand zu tun der gewisse Tod gewesen wäre: man zerriss mir in der Anstrengung Weste und Hemd. […] In diesem kritischen Momente, denn das Ganze dauerte vielleicht kaum eine Minute, hörte man den Wagen von oben herabrollen und auch Stimmen von unten: sie ließen mich also los, und nahmen die Flucht in den Wald.«
Wieder kommt Seume davon, und mit noch mehr Glück als in Sizilien behält er auch diesmal die gut versteckte Uhr und das unter der Achsel in den Rock genähte Geld.
Es gab Leser, die das für eine Räuberpistole hielten. Aber Seume hat von dem Überfall häufiger berichtet, und trotz des renommierenden Abenteurertons stimmen die verschiedenen Varianten überein. Das kann man nicht von allen gefährlichen Geschichten sagen, die Seume in seinem nicht ungefährlichen Leben erzählte. An Göschen schrieb er im Mai 1802, nicht lange nach dem Überfall:
»Vier Kerle griffen mich an, zwei mit Dolchen, zwei mit Karabinern. Einer fasste mich am Kragen und setzte mir den Dolch an die Kehle, der zweite auf die Brust. Die zwei Schnapphähne hielten mit gespanntem Gewehr etwas von ferne. Das war gar pathetisch anzusehen, wie geschickt die Schurken die Kammerdiener machten.«
Seume wird später seine Briefe von der Reise für den Bericht über sie verwenden. Die Verwandlung der Reiseerlebnisse in eine Reiseerzählung integriert Texte, die unterwegs entstanden sind. Die gekonnte Kunstlosigkeit, mit der das geschieht, erzeugt im Verein mit den im Präsens gehaltenen direkten Anreden des Lesers eine Vertraulichkeit zwischen dem Reisenden auf den Straßen und dem im Sessel.
»Ich erzähle Dir nur freundschaftlich, was ich sehe, was mich vielleicht beschäftigt und wie es mir geht.« »Ich weiß, dass mich Deine freundschaftlichen Wünsche begleiten, so wie Du überzeugt sein wirst, dass meine Seele oft bei meinen Freunden und also auch bei Dir ist.«
Diese Intimität zwischen Erzähler und Leser war keine Erfindung Seumes, sondern gepflegte literarische Form, die freundschaftliche Umgangsformen aufnahm, die wiederum von der Literatur des Freundschaftskultes präfiguriert waren.
Der sprunghafte Umgang mit Ort und Zeit, der keinem Kalkül folgt, sondern aus der raschen Niederschrift resultiert, verstärkt noch den Eindruck, nicht nur Seumes Spaziergang nachzulesen, sondern tatsächlich den Spaziergang Seumes mitzuerleben. Das Erzählen erfolgt entweder unmittelbar aus der erzählten Situation heraus oder es bedient sich der Rückblicke wie etwa in Rom, wo wir im Nachhinein die letzte Etappe des Weges dorthin erfahren. Des Öfteren befinden wir uns in einem Moment in der Gegenwart, machen im nächsten Satz einen Sprung nach vorn, holen im nächsten Absatz frühere Ereignisse nach, ziehen im übernächsten eine Extraschleife der Erinnerung an Erlebnisse vor der Reise und werden dann wieder in die gegenwärtige Szene zurückgestellt. Mitunter treibt es der Erzähler so toll, dass er sich selbst zur Ordnung ruft, nur um gleich darauf die Unordnung zu rechtfertigen:
»Ich muss mich etwas fassen, dass ich Dich den Weg über den Berg und Taormina hierher [nach Messina] mit mir nicht gar zu unordentlich machen lasse; ob Du gleich Geduld genug wirst haben müssen, denn ich bin ein gar schlechter Systematiker.«
Ein roter Faden kommt auf diese Weise nicht zustande, nicht einmal ein Knäuel, das sich vom geduldigen Leser anstelle des kapriziös unsystematischen Autors entwirren ließe. Statt in zeitlicher Chronologie den Ereignissen nachgehen zu können wie ein Wanderer, der Wegmarkierungen folgt, wird man von Seume erzählerisch kreuz und quer durch den Raum geschubst. Ein Spaziergang ist die Reise nach Syrakus für den Leser nicht.
Dieser faszinierende und irritierende Effekt verstärkt sich noch, wenn der Erzähler seinen Posten verlässt, die Perspektive wechselt und plötzlich vom Beschreiben der Reise zum Beschreiben der Reisebeschreibung übergeht. Dann ist gänzlich unklar, ob wir uns in Syrakus befinden oder in einem Brief, den Seume aus Syrakus schickt. Oder in Seumes Schreibstube in Sachsen, wo wir ihm über die Schulter schauen und lesen, wie er so tut, als würde er uns aus Syrakus schreiben:
»Wenn ich recht viel hätte schreiben wollen,
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