Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
hätte ich eben so gut zu Hause in meinem Polstersessel bleiben können« –
– schreibt Seume zu Hause in seinem Polstersessel, in dem er seine Reise nacherzählt, damit wir sie in unserem Sessel nacherleben können.
Dies alles geschieht weniger aus erzählerischer Raffinesse als aus schriftstellerischer Ungeduld. Seumes narrative Technik und Taktik sind in der akademischen Forschung lange unterschätzt worden, neuerdings wird eher überinterpretiert. Der Schriftsteller wollte schnell fertig werden mit seinem Bericht, so wie der Reisende rasch vorankommen wollte auf seinem Weg. Das eine wie das andere hatte mit der Bürde seiner Rastlosigkeit zu tun, aber auch mit der Leere seiner Börse. Als auf dem letzten Streckenabschnitt in Sizilien nach den Stichworten »Palermo« und »Agrigent« endlich »Syrakus« auftaucht, macht der Schriftsteller im Satz und der Reisende auf dem Absatz kehrt:
»Dies ist also das Ziel meines Spazierganges, und nun gehe ich mit einigen kleinen Umschweifen wieder nach Hause.«
Die »kleinen Umschweife« führten Seume über Neapel, Rom, Florenz, Bologna, Mailand und den Gotthard nach Luzern, Zürich, Basel, Dijon und schließlich nach Paris:
»Mein Aufenthalt ist zu kurz; ich bin nur ungefähr vierzehn Tage hier und mache mich schon wieder fertig abzusegeln.«
Über Nancy, Straßburg, Mainz, Frankfurt, Fulda ging es nach Vacha – wo der Abstecher zu Münchhausen erfolgt – und von dort über Weimar zur Mutter in Poserna:
»Meiner alten guten Mutter […] war meine Erscheinung überraschend. Man hatte ihr den Vorfall von den Banditen schon erzählt, und Du kannst glauben, dass sie meinetwegen etwas besorgt war.«
Diese bemerkenswerte Notiz lässt vermuten, dass Seume seiner Mutter von unterwegs keine Briefe schrieb. Sonst hätte er sie über den Ausgang des Abenteuers beruhigen können, wie er es beispielsweise mit Göschen gehalten hatte.
Ein einziger weiterer Satz ist der Mutter gewidmet: Er vermeldet gerührt, sie habe sein Fortwandern nicht geduldet, sondern ihn »bedächtiglich in den Wagen packen« lassen. Dann folgen eine hastig abgehakte Wiedersehensszene mit Schnorr, ein kurzes Lob des Schuhmachers Heerdegen in Leipzig für die ausdauernden Stiefel und eine knappe Verabschiedung des Lesers. In ihr blendet Seume das Reisen und Schreiben, das Leben und Lesen noch einmal übereinander:
»Bald bin ich bei Dir, und dann wollen wir plaudern; von manchem mehr als ich geschrieben habe, von manchem weniger.«
Der Spaziergang ist Bericht einer Reise nach Italien und zugleich Bekenntnis einer Lebensreise, fragmentarisch das eine wie das andere:
»Nimm also mit Fragmenten vorlieb«, schreibt er seinem Leser, »aus denen am Ende doch unser ganzes Leben besteht.«
Das Leben selbst, nicht bloß das Schreiben darüber!
Dieses bekenntnishaft Fragmentarische einer Lebens- und Italienreise verbindet Seume mit politisch bekennerhafter Reportage. Im pittoresken, mitunter gar drolligen Spaziergang explodieren die Tretminen der Empörung:
»Nie habe ich eine solche Armut gesehen, und nie habe ich mir sie nur so entsetzlich denken können. Die Insel [Sizilien] sieht im Innern furchtbar aus. Hier und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich gesehen habe. Zu Mittage war im Wirtshause durchaus kein Stückchen Brot zu haben. Die Bettler kamen in den jämmerlichsten Erscheinungen, gegen welche die römischen auf der Treppe des spanischen Platzes noch Wohlhabenheit sind: sie bettelten nicht, sondern standen mit der ganzen Schau ihres Elends nur mit Blicken flehend in stummer Erwartung an der Türe. Erst küsste man das Brot, das ich gab, und dann meine Hand. Ich blickte fluchend rund um mich her über den reichen Boden, und hätte in diesem Augenblicke alle sicilischen Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können.«
Vergleicht man diesen Abschnitt mit der Passage über die Armut der böhmischen Bauern und beides wiederum mit den Beobachtungen, die Seume in Frankreich anstellt, lässt sich das soziale Gefälle in Europa ermessen – und vielleicht auch die materielle Grundlage der politischen Überlegenheit Frankreichs, dessen kontinentales Ausgreifen zum Zeitpunkt von Seumes Reise noch nicht absehbar war, obwohl sie im historischen Rückblick betrachtet unmittelbar bevorstand. Frankreich ging es gut, und deshalb ließ sich dort gut gehen:
»Nun ging ich über Besançon und
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