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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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Auxonne nach Dijon herunter. Es war ein Vergnügen zu wandeln, überall sah man Fleiß und zuweilen auch Wohlstand. Wenigstens war nirgends der drückende Mangel und die exorbitante Teuerung, die man jenseits der Alpen fand: und doch hatte hier die Revolution gewütet und der Krieg gezehrt.«
    Die französischen Verhältnisse werden trotz der Revolution – nicht wegen ihr, wie ein Jakobiner argumentiert hätte, der Seume nie war – den erbärmlichen Zuständen in Italien gegenübergestellt. Arkadien ist verkommen, und auch wenn in diesem Land immer noch Zitronen und Orangen blühen, findet der nüchterne Blick auf die nackten Tatsachen kaum etwas zu loben. In Frankreich gedeiht der Wohlstand, selbst dort, wo es nur ein kleiner ist, und die Zukunft wächst heran. An ihr wird Seume während seiner letzten Lebensjahre die zersplitterte deutsche Gegenwart messen – mit einem Patriotismus ohne Vaterland.
    Es gefällt Seume, durch Frankreich zu gehen, und es missfällt ihm, in Paris Napoleon zu sehen:
»Von Bonaparte sollte ich wohl lieber schweigen, da ich nicht sein Verehrer bin.«
    Wegen dieser und weiterer antinapoleonischer Bemerkungen höhnte der französische Journalist Pierre Louis Roederer im Journal de Paris , Seume sei von englischem Geld bestochen und von deutschem Bier besoffen. Auf diesen Angriff kommt Seume an etwas merkwürdiger Stelle zurück, in seiner Vorrede zu Robert Percivals »Beschreibung des Vorgebirges der Guten Hoffnung« , das er gleich nach dem Erscheinen des Originals in London 1804 übersetzte:
»Mein Buch, der Spaziergang nach Syrakus, enthält nach meiner Überzeugung nur Wahrheit; und wenn ich darin über Wien und Rom, Neapel und Paris schrieb, so geschahe das ohne alle weitere Absicht, als weil ich eben dort war und sahe, was ich sahe, und darüber dachte wie ich dachte, und weil ein rechtlicher unbefangener Mann mit Anstand darüber seine Meinung freimütig zu äußern befugt ist. Wenigstens will ich mir dieses Recht nicht nehmen lassen, so lange ich das Wesentliche meiner Persönlichkeit fühle. Wenn Millionen vor einem einzigen Manne zittern und anbeten, so will ich weder das eine noch das andere; und wenn mich auch ein Schauerchen der Menschlichkeit [menschliche Schwäche] überfiele, so soll es doch weder in Überzeugung noch Handlung etwas ändern. Ich werde nie so verwegen sein, mir irgend einen Einfluss auf öffentliche Dinge anzumaßen; aber auch nie so kleinmütig, meine Begriffe von Freiheit und Gerechtigkeit durch despotische Willkür bestimmen zu lassen. Schweigen kann ich sehr wohl, das wissen alle, denen ich nahe bin, aber wenn ich rede, rede ich nur, was ich denke.«
    Diese Replik war Seume nicht wegen Roederer wichtig, den sie kaum erreicht haben dürfte, sondern wegen seines Publikums in Leipzig und Weimar. Und dieser Zweck wurde erfüllt, wie ein Brief Wielands an Göschen bezeugt: »Die Vorrede unseres Freundes Seume zur Übersetzung des Percivallischen Werks habe ich mit großem Interesse gelesen. Es ist eine Freude, derbe Wahrheiten so freimütig und kräftig und doch so manierlich gesagt zu hören. Seume kann nun sicher sein, dass niemand glauben noch sagen wird, dass englische Guineen […] aus ihm sprechen.«
    Seumes Alternative, entweder zu schweigen oder die Wahrheit sagen zu müssen, ist nicht bloß persönliche Haltung, sondern ein allgemeiner rhetorischer Gestus in der Epoche der Aufklärung. Georg Forster beispielsweise benutzte in einem Brief aus dem revolutionären Paris eine ähnliche Wendung: »Schweigen kann ich, aber nicht gegen meine Überzeugung und Einsicht schreiben.« Die Wahrheit kann zwar unterdrückt, aber nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Schweigen heißt: biegsam sein, aber nicht, sich zu beugen. Dieses Schweigen verleugnet die eigene Meinung nicht, sondern verschiebt nur ihre Äußerung.
    Mit der Wahrheit wurde im 18.Jahrhundert ein großer Kult getrieben, und oft genug wurde sie von Wahrhaftigkeit nicht unterschieden. Auch von Seume nicht. Die Wahrhaftigkeit lag ihm immer am Herzen, auch wenn er die Wahrheit manchmal aus den Augen verlor. Wahrheitsliebe ist nicht gleich Faktentreue. Gleichwohl muss gelegentlich Treue zu den Fakten bewiesen werden, soll die Liebe zur Wahrheit glaubwürdig bleiben. Im Grunde jedoch kommt es auf die innere Haltung zur äußeren Wirklichkeit an. So jedenfalls setzt Rousseau es seinen Lesern im vierten Spaziergang seiner Träumereien auseinander und legt es sich dabei selbst zurecht: »Ich habe

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