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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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irdischen Lebens gewesen ist. Doch schon zu Seumes Zeiten litt dieser Vergleich unter der Materialermüdung seiner ursprünglich religiösen Bedeutung. War dem Erdenpilger das Leben eine Last, wurde nun dem Erdenbürger das Wandern zur Lust. Und die romantische Schwärmerei des frühen 19.Jahrhunderts führte über das Naturburschentum im frühen 20.Jahrhundert in die folkloristische Eskapade. »Ich bin dann mal weg!« Wer möchte das nicht hin und wieder von sich sagen?
Seume indessen hat keinen Urlaub gemacht, auch nicht in kulturell wertvoller Form wie der von Weimarer Amtsgeschäften erschöpfte Goethe. Seume ist losmarschiert, Theokrit im Tornister, Wilhelmine Röder im Herzen und die Unerfüllbarkeit aller Sehnsucht im Sinn. Wer so lebt und geht macht keine Ansprüche auf einen bürgerlichen Lebenslauf:
»Und gleich ists auch, so deucht es mir, für andre,
Ob ich dahin
Hier oder dort durchs schale Leben wandre,
Und Niete bin.«
    Beide Fehler hat Seume vermieden und dafür den Preis einer koboldhaften Sprunghaftigkeit im Erzählen bezahlt, die einen im Lesesessel Reisenden je nach Naturell den Kopf schütteln oder ihm das Herz hüpfen lässt. Seume war nie als »bedächtiger Mann« unterwegs. »Noch betracht’ ich Kirch’ und Palast, Ruinen und Säulen,/Wie ein bedächtiger Mann schicklich die Reise benutzt«, erklärt Goethe gravitätisch in der ersten Römischen Elegie , bevor er genauso gravitätisch auf »Amors Tempel« und die Liebe zu sprechen kommt, die ewig ist wie die Stadt Rom. Seume macht nicht so viel Umstände. Sein Amor-Tempel ist das »Körbchen« einer jungen »Sünderin«, die ihn in einem Mailänder Gasthaus zu verführen suchte, vergeblich übrigens, was er im Rückblick bedauert. Die Kirchen und Paläste wiederum stehen von vornherein nur am Rand seines Interesses. Er sei »nicht nach Italien gegangen, um vorzüglich Kabinette und Galerien zu sehen«. Ja, schimpfte Caroline Herder, sondern Wirtshäuser und Landstraßen. Es gilt eben, dass »ein jeder seinen eigenen Maßstab hat, wonach er die Dinge außer sich abmisst, und seinen eigenen Gesichtspunkt, woraus er die Gegenstände betrachtet«. So heißt es in der Vorrede zu den Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 von Karl Philipp Moritz. Aber der war Caroline ja auch suspekt.
    Konnte man Seumes Herumtreiberei und das Schreiben darüber auch nicht »schicklich« nennen, so war es doch neu und wirkte auf vorurteilslose Leserinnen und Leser erfrischend. Sein Wirtshausrepublikanismus führte ihn an gemiedene Orte und an solche, die, wenn sie schon nicht gemieden werden konnten auf einer Reise, doch nicht der Rede und erst recht nicht der Schrift wert waren. An diesen Orten begegnete er Menschen, die beim Fahren in der Kutsche wie beim Lesen im Kabinett nur flüchtig wahrgenommen werden. Und dann gab er auch noch das Räsonnement dieser gewöhnlichen Leute wieder, die doch tatsächlich eine Meinung hatten, obwohl das die gewöhnlichen Intellektuellen im Deutschland jener Jahre als ein Privileg von ihresgleichen ansahen, als eine Sache der Journale, die man hielt, und der Debatten im Salon. Nicht nur den geistigen Repräsentanten am Musenhof in Weimar war ein altgriechischer Feldherr oder Philosoph gedanklich und menschlich näher als die Magd in der eigenen Küche.
    Obwohl Seume seinen Weg geht, geht er nie so weit, sich gemein mit dem gemeinen Mann zu machen. Er ist eben doch ein studierter Herr, wenn auch kein feiner. In der ersten seiner vielen Wirtshausszenen, es sind fast so viele wie im Don Quijote , herrscht denn auch das Pittoreske vor, in dessen Modus nach Ansicht gebildeter Leute die einfachen ihr sogenanntes pralles Leben leben:
»In der Budiner Wirtsstube [auf dem Weg nach Prag] war ein Quodlibet [Durcheinander] von Menschen, die einander ihre Schicksale erzählten und hier und da zur Verschönerung wahrscheinlich etwas dazu logen.«
    Seume weiß, wovon er schreibt, er hatte damit seine eigene Erfahrung.
»Einige österreichische Soldaten, Stallleute und ehemalige Stückknechte [an Artilleriegeschützen], die alle in der französischen Gefangenschaft gewesen waren, und einige Sachsen von dem Kontingent machten eine erbauliche Gruppe, und unterhielten die Nachbarn lang und breit von ihren ausgestandenen Leiden. Besonders machte einer der Soldaten eine so greuliche Beschreibung von den Läusen im Felde und in der Gefangenschaft, dass wir andern fast die Phthiriase [Filzläusebefall] davon hätten bekommen mögen. Mir war es

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