Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
übergestreift, und zwar ähnlich wie bei Seume in Zusammenhang mit einer Erzieherstelle beim Neffen eines hohen Militärs. Daraus wurde nichts, doch dienten Rousseau und Seume als Sekretäre, der eine bei einem General in Warschau, der andere bei einem Gesandten in Venedig.
Beide berichten von einem Bruder, der auf und davon ging und verschollen blieb, »so vollständig«, schreibt Rousseau, »dass man nie erfahren hat, was aus ihm geworden ist«. Auch von Seumes Bruder erfuhr man nie, was aus ihm geworden ist. Er wurde erst zwei Jahrzehnte nach Seumes Ableben für tot erklärt.
Nicht nur die Brüder ergriffen die Flucht, sondern auch sie selbst. Rousseau war knapp sechzehn, als er nach einem Ausflug die Stadttore von Genf verschlossen fand und davonlief. Sein Weg führte den Genfer Calvinisten in den Schoß der katholischen Kirche und in die Arme von Madame de Warens. Seume war etwas über achtzehn, als er aus Leipzig floh und hessischen Werbern in die Hände fiel.
Beide berichten auch von schweren Demütigungen der Väter. Rousseaus Vater floh nach Händeln mit einem Aristokraten aus Genf, was Rousseau, dessen Mutter im Kindbett gestorben war, zum faktisch vaterlosen Gesellen machte. Die Demütigung von Seumes Vater durch die Fron war weniger dramatisch, brach dem Mann aber, jedenfalls nach Darstellung des mitleidenden (und im Vater mitgedemütigten) Sohnes den Lebenswillen.
Des Weiteren berichten beide von einem »Verbrechen«, dessen sie als Kinder angeklagt und für das sie bestraft wurden, ohne es begangen zu haben. Bei Rousseau handelte es sich um einen zerbrochenen Kamm, bei Seume um einen gestohlenen Gulden. Die Züchtigung »war schrecklich«, wie es in Rousseaus Bekenntnissen , sie geschah auf »schreckliche Weise«, wie es in Seumes Mein Leben heißt. Solche Urszenen verletzter Gerechtigkeit werden bis heute viele Kinder erleben, und ihr seelischer Nachhall ist sicher vielen Erwachsenen nicht fremd. Die Übereinstimmung des erzählerischen Gestus zwischen Rousseau und Seume ist dennoch erstaunlich.
Auch zu Seumes Lieblingswendung, ohne Furcht und Hoffnung durchs Leben zu gehen, gibt es Entsprechungen bei Rousseau. Im ersten seiner »einsamen Spaziergänge« heißt es, er »habe für diese Welt nichts mehr zu hoffen, noch zu fürchten«. Und selbst noch beim Wollen des Nichtwollens stimmen die beiden überein. Garlieb Merkel erzählt davon, wie Seume, vom Freund wegen der mangelnden Energie zum Positiven ins Gebet genommen, unwirsch zugibt, nun einmal besser zu wissen, was er nicht wolle. Rousseau wiederum schreibt im ersten seiner vier Bekenntnisbriefe an Malesherbes: »Kurz, die Art des Glücks, das ich brauche, besteht nicht so sehr darin zu tun, was ich will, als nicht zu tun, was ich nicht will.«
Kutschfahrt nach Norden
Nach Syrakus lief Seume wegen Klopstock, Theokrit und Wilhelmina Röder; nach Polen und ins Baltikum, nach Russland, Skandinavien und Dänemark fuhr er wegen Zar Alexander und Johanna Loth. Die beiden Frauen waren vielleicht nicht die Hauptursachen, aber doch die Anschubmotivationen dieser Reisen. Zu Beginn von Mein Sommer 1805 , gleich nach einer radikalpolitischen Vorrede und einem sehr trüben Gedicht, in dem sich »Totenhügel« auf »Rabenflügel« reimen – gleich nach dieser erst aufbegehrenden, dann niedergedrückten Einstimmung erklärt er seinem alten Duz-Freund, dem Leser:
»Dieses [Gedicht] nehme ich eben für dich aus meinem [auf der Reise geführten] Taschenbuche, mein Freund; und die Wahrheit jeder Silbe ohne Dichtung behauptet, will es weiter nichts sagen, als dass ich mit meiner Weisheit etwas in den Brüchen und in der Leidenschaft – leidenschaftlich war. Es gehören Jahre dazu, ehe ich weich werde; dann wirkt es vulkanisch: aber mit einem einzigen heroischen Streiche [eben dem Aufbruch nach Norden] ist auch die Kur vollendet; ich bin wieder der Alte, und halte nicht nur an dem Begriffe der Pflicht und der Männerwürde, sondern lebe auch kräftig darin.«
So schafft er es, dem »Geschlechtszauber« zu entrinnen und seine »drei platonischen Seelen« – als da wären: Begierde, Willenskraft und Vernunft – »wieder in ziemlich gute Ordnung« zu bringen:
»Es geht nahe an der Zertrümmerung meines Wesens vorbei; aber es geht. Genug davon.«
Nur noch eine kleine Stelle aus einem Brief an Hartknoch vom Januar 1805:
»Es ist in meinem innern moralischen Wesen ein kleiner Vorfall geschehen, der mich schnell bestimmt hat, mit dem Eintritt des Frühlings den
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