Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Leute gesehen, die man in der Welt wahrhaftig nennt. Ihre Wahrhaftigkeit erschöpft sich in müßigen Unterhaltungen darin, Ort, Zeit und Personen richtig anzuführen, sich keine Erdichtungen zu erlauben, keinen Umstand auszuschmücken, nichts zu übertreiben. Sie sind in ihren Erzählungen von unbestechlicher Treue, solange es nicht ihr eigenes Interesse berührt. Kommt es aber darauf an, von etwas zu handeln, das sie angeht, eine Begebenheit zu erzählen, die sie nahe betrifft, so werden alle Farben gebraucht, die Sache in dem für sie vorteilhaftesten Licht zu zeigen, und wenn die Lüge ihnen nützen kann, so enthalten sie sich zwar selbst, sie zu sagen, aber sie begünstigen sie geschickt und bewirken so, dass sie angenommen wird, ohne dass sie auf ihre Rechnung geschrieben werden kann.«
Dem äußeren Schein hält Rousseau die innere Wahrhaftigkeit entgegen: »Derjenige, den ich wahrheitsliebend nenne, tut gerade das Gegenteil. Bei völlig gleichgültigen Dingen rührt ihn die Wahrheit, um die sich der andere dann so emsig bemüht, sehr wenig, und er wird sich kein Gewissen daraus machen, eine Gesellschaft mit erdichteten Begebenheiten zu unterhalten […] Jede Rede aber, die […] Achtung oder Verachtung der Gerechtigkeit und Wahrheit zuwegebringen kann, ist eine Lüge, die nie aus seinem Herzen, aus seinem Mund oder aus seiner Feder kommen wird.«
Faktentreue ohne Wahrheitsliebe hat keinen Sinn, Wahrheit ohne Gerechtigkeit keinen Wert: »Aber wie, wird man sagen, reimt sich diese Nachlässigkeit [bei gleichgültigen Dingen] mit der glühenden Wahrheitsliebe, die ich an ihm rühme? Dieser Eifer muss also unecht sein […] Nein, er ist lauter und wahrhaft, er ist ein Ausfluss der Liebe zur Gerechtigkeit und will nie falsch sein, obgleich er sich oft Erdichtungen erlaubt. Gerechtigkeit und Wahrheit sind in seinem Geiste gleichbedeutende Worte, deren er sich ohne Unterschied bedient. Die geheiligte Wahrheit, der sein Herz anhängt, besteht bei ihm nicht in gleichgültigen Dingen und leeren Namen, sondern darin, einem jeden getreulich das, was ihm wahrhaftig gehört, zukommen zu lassen an […] Ehre oder Tadel, Lob oder Missbilligung. […] Seine eigene Achtung ist ihm vor allem wichtig, dies ist das Gut, das er am wenigsten entbehren kann, und er würde es als einen wirklichen Verlust empfinden, die Achtung anderer auf Kosten seiner eigenen zu erlangen.«
In dieser Rousseau’schen Träumerei ist Seumes gesamtes Wahrheitsprogramm enthalten, bis hin zu seiner Unterscheidung zwischen Ruhm (bei den anderen) und Ehre (vor sich selbst).
Seume und Rousseau
»Zu Fuß meinen Weg machen, bei schönem Wetter, in schöner Landschaft, ohne Eile, als Ziel meiner Reise vor mir etwas Angenehmes, diese Lebensweise ist am meisten von allen nach meinem Geschmack.« Dieser Satz könnte von Seume stammen, steht aber in den Bekenntnissen von Jean-Jacques Rousseau. Dieses Buch ekstatischer Aufrichtigkeit ist zugleich eines von eklatanter Unzuverlässigkeit. Was dies betrifft, hätte Seume kein besseres Vorbild haben können.
Die Entsprechungen zwischen dem Uhrmachersohn aus Genf und dem sächsischen Kleineleutekind sind zahlreich, bis hin zu frappierenden Ähnlichkeiten bei lebensgeschichtlichen Details. Beide waren große Spaziergänger und haben entsprechende Bücher geschrieben: Seume mit dem Spaziergang nach Syrakus , Rousseau mit den Träumereien eines einsamen Spaziergängers , ein Text, der in sieben »Spaziergänge« gegliedert ist und auf Deutsch unter dem Titel J.J.Rousseau’s Selbstgespräche auf einsamen Spaziergängen. Ein Anhang zu den Bekenntnissen 1782 in Berlin erschien. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Seume die Texte Rousseaus nicht gekannt hat.
Eine weitere Ähnlichkeit ist beider Vorliebe für Plutarch. Das war im 18.Jahrhundert nicht ungewöhnlich, doch ist die Intensität dieser Vorliebe erstaunlich: In den Bekenntnissen wird Plutarch schon auf den ersten Seiten erwähnt, und Seume hat in seinen letzten Jahren an einem Buch über Plutarch gearbeitet. In dieser Zeit litt Seume an der Nieren- und Blasenkrankheit, an der er gestorben ist, während Rousseau von Jugend an mit einem Blasenleiden kämpfte. Die Krankheiten waren medizinisch unterschiedlicher Natur, hatten aber psychologisch ähnliche Folgen, sowohl was die Pein als auch was die Peinlichkeit anging.
Beide waren kurzsichtig, der eine wurde trotzdem Soldat, der andere wäre es beinahe geworden. Auch Rousseau hätte um ein Haar die Uniform
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