Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Sommer über eine Ausflucht zu suchen. Da es jetzt in England nicht ganz ruhig ist [wegen der Kontinentalsperre Napoleons], werde ich nach Petersburg wandeln, wozu außerdem noch einige andere persönliche Rücksichten einladen.«
Mit diesen »persönlichen Rücksichten« ist der Versuch gemeint, bei Alexander eine Pension zu erwirken für seinen russischen Militärdienst in den 1790ern. In Mein Sommer erinnert er den Leser bei der Schilderung des Petersburger Aufenthaltes an dieses Vorhaben:
»Ich war, wie dir bekannt ist, halb und halb mit der Absicht ausgegangen, hier Zutritt bei dem Kaiser zu suchen und ihn um einen kleinen Jahrgehalt zu bitten, den ich verdient zu haben glaube und mit Selbstgefühl erwarten könnte.«
Aber weil daraus nichts geworden ist – der Zugang zu Machthabern steht nicht allen jederzeit offen –, rafft er sich auf, wenigstens seinen Stolz zu behalten, der, wie so oft in seinem Leben, das Einzige ist, woran er sich halten kann:
»Schon unterwegs hatte ich den Gedanken ziemlich aufgegeben, und hier fand ich den Monarchen durch die kritische Lage der öffentlichen Angelegenheiten so sehr von wichtigen auf keine Weise angenehmen Geschäften belagert, dass es mir nicht einfiel, einen Schritt deswegen zu tun. Es würde mir vielleicht so schwer nicht geworden sein: aber bei genauerer Prüfung fand ich, dass es doch wohl besser sei, aus eigenen Kräften durch mich so lange als möglich allein zu leben.«
So will er sich und den Leser glauben machen, er habe das, was er nicht erreichen konnte, gar nicht wirklich bekommen wollen. Später, in den allerletzten Lebensmonaten, wird er aus Not doch noch einen Vorstoß unternehmen müssen.
Trotz seiner prekären finanziellen Situation reiste Seume als anerkannte Persönlichkeit. Er hatte Böttiger am 13. März angekündigt, »zu Ende des Monats denke ich hier wegzutornistern«, und so wurde sein Aufbruch in der Zeitung angekündigt, nicht wie viele Jahre zuvor als Suchanzeige nach einem entlaufenen Studenten, sondern in Form einer Hommage seines publizistischen Freundes und, wie Caroline Herder gespottet hatte, »Herumbieters« Böttiger: »Unser wackerer Seume (wir Leipziger sind stolz auf den Besitz dieses Ehrenmannes, der immer wieder in unsere Mitte zurückkehrt, und nennen ihn gern den unsern , auch wenn er uns mitunter eine unvergoldete Pille zu schlucken gibt), der Spaziergänger nach Syrakus, ist auf einer neuen Wanderung begriffen. Es riss ihn unwiderstehlich fort; er musste den Wanderstab ergreifen.«
Fortgerissen hat es den »wackeren Seume«, aber den »Wanderstab ergriff« er nicht. Diesmal legte er den überwiegenden Teil der Strecke auf Rädern zurück. Sein Protest gegen das Straßen ruinierende Spurfahren der Kutscher im Spaziergang hätte eigentlich besser in Mein Sommer 1805 gepasst – wie umgekehrt die Theorie der Fußgängerei, die er im Vorwort zu Mein Sommer entwickelt, eher zum Spaziergang .
Aber den legendären Tornister, in dem er den Thukydides nach Süden schleppte, hat er für die »nordische Reise« doch reaktiviert, und für Teilstrecken schlüpfte er trotz der Beschwerden, die ihm seine alte Fußverletzung machte, wieder unter die Riemen:
»Von Dorpat aus nahm ich hohen Mutes meinen sicilianischen Seehundstornister wieder selbst auf eigene Schultern […] Man fühlt sich nie mehr in seiner Kraft, als wenn man geht; und so möchte ich einmal abtreten. Es muss kein herrlicheres Ende sein, als der Tod in dem Gefühl seiner Kraft.«
Das war ihm nicht vergönnt. Seinen »letzten Gang« trat er keine fünf Jahre später im Liegen an, dahinsiechend in einem Wirtshausbett im Badeort Teplitz, dessen Heilwasser ihm nicht helfen konnte.
Du sollst nicht spuren
Während Seume nach Osten und Norden fuhr, philosophierte er über das »Fußwandeln«; während er nach Süden marschierte, dachte er über das Kutschenfahren nach. Unterwegs auf Schusters Rappen gerät er außer sich, wenn er die Spurrillen sieht, die schlecht gelenkte Pferde mit Fuhrwerken in die Straßen fahren:
»Es ist mathematisch zu beweisen, dass die Gewohnheit des Spurfahrens, zumal der schweren Wagen, die beste, festeste Chaussee in kurzer Zeit durchaus verderben muss. Ist einmal der Einschnitt gemacht, so mag man schlagen und ausfüllen und klopfen und rammeln, so viel man will, man gewinnt nie wieder die vorige Festigkeit; die ersten Wagen fahren das Gleis wieder aus und machen das Übel ärger. Fängt man an, ein zweites Gleis zu machen, so ist dieses
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