Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
bald eben so ausgeleiert; und so geht es nach und nach mit mehrern, bis die ganze Straße ohne Hilfe zu Grunde gerichtet ist. Wenn aber der Weg nur einigermaßen in Ordnung ist und durchaus kein Wagen die Spur des vorherigen hält, so kann kein Gleis und kein Einschnitt entstehen, sondern jedes Rad versieht, so zu sagen, die Stelle eines Rammels und hilft durch die beständige Veränderung des Drucks die Straße bessern.«
Es mag einem kurios vorkommen, dass ein Fußgänger sich Gedanken um den Zustand der Straßen macht. Aber erstens drückt sich darin ein Interesse am Allgemeinen aus, das über die unmittelbaren eigenen Bedürfnisse hinausgeht; zweitens hat dieses Interesse am Allgemeinen dann doch Rückstoßeffekte auf das eigene:
»Geleite und Wegegeld und Postregal haben durchaus keinen Sinn, wenn daraus nicht für den Fürsten die Verbindlichkeit entspringt, für die Straßen zu sorgen.«
Wenn man schon Wegegeld entrichtet, dann sollen auch die Straßen in Ordnung sein. Modern ausgedrückt: Mautgebühren für Autobahnen mit Schlaglöchern will niemand zahlen. So gesehen ist Seumes Sorge schon viel weniger bizarr, trotz der komisch-drakonischen Bemerkung im nordischen Reisebericht:
»Wenn ich es je dahin bringen könnte, dass niemand Spur führe, dass man die hartnäckigen Spurfahrer endlich ins Zuchthaus steckte; so würde ich glauben, ich hätte eine Ehrensäule verdient.«
Das Spurfahren war ›polizeylich‹ untersagt, und für die Radbeschläge gab es Regeln. Nur kümmerte sich niemand darum, beklagt er im Spaziergang :
Von »Wegen darf ich mit meinen Landsleuten nicht sprechen; die sind wohl selten in einem andern Lande schlimmer und gewissenloser vernachlässigt, als bei uns in Sachsen.«
In ganz Deutschland mangelte es an befestigten Fernstrecken. Preußen mit seiner riesigen Armee hatte einige schlecht angelegte Heerstraßen, aber »beim Tode Friedrichs II. [1786] keine einzige ausgebaute Chaussee!«, wie Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte fassungslos konstatiert.
Seume pflegte in den Dörfern die gemauerten Schornsteine auf den Dächern zu zählen und daraus Rückschlüsse zu ziehen auf den Wohlstand der Regionen:
»Wenn man in Estland und Liefland [Lettland] nur selten einen Schornstein sieht, so hat hier [in Schweden] manches Bauerngut vier bis sechs Schornsteine, und viele schöne Nebengebäude.«
Beim Rezensieren der Straßen zwischen den Städten folgte er demselben Impuls konkreter Kritik.
Die in Mein Sommer beschriebene Route führte über Dresden, Görlitz, Breslau nach Warschau, wo Seume elf Jahre zuvor den Osteraufstand gegen die russische Besatzung miterlebt hatte und in polnische Gefangenschaft geraten war. Den Aufstand erwähnt er, betrübt darüber, dass die Trümmer noch immer nicht beseitigt sind, als sollten die Ruinen der Häuser an die Ruinen der polnischen Nation erinnern. Die Gefangenschaft lässt er unerwähnt. In seinen 1796 veröffentlichten Nachrichten über die Vorfälle in Polen hat er ihre Dauer mit sieben Monaten angegeben, doch fügt sich diese Zeitspanne nicht passgenau in andere Lebensdaten.
Von Warschau ging es über Grodno (heute in Weißrussland), Kowno in Litauen nach Riga in Lettland, wo er General Igelström, dem alten Chef aus Warschauer Tagen, seine Aufwartung zu machen versuchte. Doch wurde er nicht vorgelassen, was den leicht kränkbaren Seume nachhaltig verärgerte.
Die nächste wichtige Reisestation war Dorpat (Tartu) im damals russisch beherrschten Estland. Kurz vor der Ankunft kam es zu einem Unfall:
»Der Wagen jagte echt russisch reißend auf der ganz glatten Chaussee hin, als im Sturz die eiserne Achse brach, die große hohe Maschine umflog und meine ganze Poetik in einem Bogen von vielen Klaftern rechts hinab in den Graben schleuderte. Die Pferde machten vernünftig Stillstand, und wohlbehalten arbeitete ich mich mit meinem jungen Freunde aus dem Gepäcke heraus, und setzte mich mit einer nur kleinen Kontusion auf die Füße.«
Bei dem »jungen Freund« handelte es sich um einen Heranwachsenden, den Seume in der Rolle eines reisenden Hofmeisters nach Dorpat zu bringen und bei Verwandten abzuliefern hatte. Aus Freude, diese Aufgabe glücklich erledigt zu haben, machte er nach Dorpat ein wenig Strecke mit dem Tornister, nicht weil er Angst vor brechenden Achsen hatte oder sich Sorgen um seine »Poetik« machte.
Von Dorpat ging es nach St.Petersburg, wo Seume unter anderen mit Klinger zusammentraf, dem Direktor des
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