Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Petersburger Kadettencorps und Kurator der Universität Dorpat. Von Stockholm aus schrieb Seume darüber am 14. August an Göschen:
»Klinger trug mir wiederholt eine Professur in Dorpat an und riet mir, meine Mutter dahin mitzunehmen. Aber ich halte es nicht mehr der Mühe wert, eine neue Lebensweise anzufangen: zumal da meine Mutter in ihren Jahren sich schwerlich entschließen würde, ihr Vaterland und ihre dortige Familie zu verlassen.«
Was das für eine Professur gewesen sein könnte, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden. Aber die Begründung ihrer Ablehnung ist bemerkenswert: Als ob er geahnt hätte, dass ihm nur noch fünf Jahre bleiben, mag er sich nicht mehr die Mühe eines Neuanfangs machen. Und dann wird noch die Mutter im sächsischen Vaterland aufgeboten. Dabei weiß Göschen, und Seume erwähnt es doch auch selbst, dass sie untergebracht und versorgt ist. Seume hätte die Mutter also nicht mitnehmen müssen, sondern allein umsiedeln können. Die Vermutung, das habe er nicht gekonnt, weil er sich nicht von ihr trennen mochte, liegt nahe. Seume freilich lag das fern, jedenfalls fern genug, um von Grimma aus nur selten ins nahe gelegene Heimatdorf zu einem Besuch bei der Mutter zu kommen. Das Verhältnis zwischen den beiden dürfte weniger innig gewesen sein, als Seume vorgab, wenn er sich lebenspraktischen Zumutungen in Form pädagogischer Posten entziehen wollte. Er hing nicht an Mutters Rock, flüchtete aber hinter ihren Rücken, um den Verführungen und Verpflichtungen eines bürgerlichen Amtes zu entwischen. Dennoch war es ihm wichtig, seinem alten Chef Göschen von Klingers Angebot zu erzählen. Es sollte zu Hause nur ja niemand denken, es gäbe in der Welt kein Interesse an einem wie ihm.
In diesem Brief erwähnt Seume auch, er habe durch Klinger von Schillers Tod erfahren. Im Reisebuch schildert er die Szene so:
»Eben war ich […] in einer gemütlichen und traulichen Unterredung, da trat ein großer, ernster, charaktervoller Mann herein, mit finsterem, fast mürrischem Gesichte, warf seinen Federhut und Stock nachlässig auf einen Seitentisch und schritt schweigend einige Mal im Zimmer auf und ab. Der Mann war Klinger; er kam von der Kaiserin [Maria Fjodorowna, die Mutter des Zaren, zu deren Beraterkreis Klinger gehörte]. Kinder, sagte er mit dem Tone der tiefen männlichen Rührung: Schiller ist tot. Werter hätte mir Klinger in langer Zeit nicht werden können, als in diesem einzigen Moment durch diesen Ton; ob er mir gleich keine traurigere Nachricht hätte bringen können.«
Von Petersburg nach Moskau erlebte und erlitt Seume eine »Höllenfahrt«, die nur erlesen amüsant ist:
»Der Weg ist das solideste, gröbste, etwas ausgefahrene Steinpflaster mit abwechselnden Knüppelbrücken; das Fuhrwerk gilt zwar für eine Postkibitke, ist aber bloß ein offener, sehr massiver, backtrogähnlicher Karren, Telege genannt, fest auf der Achse liegend und bei jedem Stoß durch alle Sehnen dröhnend. Ich bat um Heu oder Stroh; da war aber selten etwas zu haben; so dass ich in der besten gewöhnlichen Richtung im Kasten auf der Achse saß, und nur die Wahl hatte, mich gelegentlich durch eine schlimmere Wendung auf kurze Zeit etwas zu verbessern. Nun jagt der gemeine Russe mit seinen Stahlknochen über kleine und große Steine polternd hinweg, dass die Haare fliegen, und fragt nicht, was Brust und Schenkel des Reisenden dabei empfinden. Das wirft und stößt und dröhnt von dem heiligen Bein bis in die Zirbeldrüse.«
Und in der sitzt, jedenfalls lehrte das Descartes, die Seele. Bei derart erschütternder Fortbewegung ist es kein Wunder, dass Seume gehen wollte – wenn es nur gegangen wäre mit der alten Verletzung am Fuß.
Von Moskau führte die Reise zurück nach Petersburg, wo er, vermutlich auf Empfehlung Klingers, von Maria Fjodorowna empfangen wurde:
»Das war mir nun unerwartet genug, und meine halbhuronische Personalität geriet doch einige Sekunden ins Betroffene. […] Die Kaiserin sprach mit mir ungefähr eine halbe Stunde, zuerst über mich selbst, meine kleinen Wanderungen und literarischen Arbeiten. […] Die Kaiserin fragte mich viel über Schiller, dessen Tod noch das Gespräch der Stadt war […] Da ich mit Schiller immer in freundschaftlichen Verhältnissen gewesen war, konnte ich mit wahrer Wärme von seinem Charakter sprechen. Der bessere Mensch in ihm ließ von den minder guten Momenten keine Flecken einrosten.«
Dann kommt die Fürstin auf das Angebot zu sprechen, das
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