Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Paar schon in Scheidung. Die Ehe mit ihrem zweiten Mann Ludwig Ferdinand Huber dauerte bis zu dessen Tod 1804. Sowohl im Haus ihres Vaters als auch in den Lebensabschnitten mit Forster und Huber spielten das Lesen und Schreiben eine überragende Rolle. Therese selbst veröffentlichte teilweise anonym, teilweise unter dem Namen Ludwig Ferdinand Huber. Später musste sie als Redakteurin aufreibende Emanzipationskämpfe im männerdominierten Zeitschriftenwesen durchstehen. Zum Zeitpunkt ihres Briefes an Göschen lebte sie bei der Familie ihrer zweiten Tochter: Wir »wünschten […] Seumes Bekanntschaft zu machen, dessen Reise im Norden uns das höchste Interesse für seine Individualität einflößte. Sie kennen Seume, – wenn er je durch diese Gegend kommt, so soll er, sagen Sie es ihm, wie griesgrämig er auch sei, an unserm Herde seinen Platz einnehmen.«
Die Reaktion von Therese Huber auf Mein Sommer ist der von Caroline Herder auf den Spaziergang stracks entgegengesetzt. Und gewiss nicht nur deshalb, weil Therese einige Stationen von Seumes Reise aus eigener, wenn auch rund zwei Jahrzehnte zurückliegender Erfahrung kannte, hatte sie doch von 1785 bis 1787 mit Forster in Wilna gelebt. Die außergewöhnliche und vom Leben ziemlich herumgeschüttelte Frau ist neugierig auf Seume. Während Caroline sich wegen des südlichen Reisebuchs von dessen Persönlichkeit abgestoßen fühlt, empfindet Therese wegen des nördlichen Reisebuchs »Interesse für seine Individualität« – und das trotz Seumes legendär ungefälliger Art von Geselligkeit. Göschen wird die wohlwollende und Seume sicher auch wohltuende Einladung nicht verschwiegen haben. Aber zu einer Begegnung zwischen Seume und der nur um ein gutes Jahr jüngeren Therese ist es nicht gekommen. Schwer vorstellbar, wie sie verlaufen wäre.
Seume konnte nach seiner dritten weiten Reise keine großen Sprünge mehr machen. Es fehlte ihm an Geld und an Kraft, der Fuß tat ihm weh, und das Herz war ihm schwer. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte seine »Personalität« in Leipzig und sein Geist im alten Griechenland. Er gab Sprachunterricht und beugte sich über den Plutarch. Es kam, wie er es im letzten Satz von Mein Sommer vorhergesehen und sich vorgeschrieben hatte:
»Dann setze ich mich wieder zu meinem Griechischen, und verschulmeistere mein Amphibienleben so gut es geht.«
Drittes Kapitel
Menschenkenntnis
Der Vater und die Väter – Die Mutter
und die Mädchen – Die Freunde und die Chefs
»Mein Vater Andreas war ein ehrlicher, ziemlich wohlhabender Landmann, der, wie ich, die Krankheit hatte, keine Ungerechtigkeit sehen zu können, ohne sich mit Unwillen und nicht selten mit Bitterkeit darüber zu äußern.«
– Mein Leben –
»Da meine Mutter durch eine gewöhnliche Vernachlässigung nach meiner Geburt an der Brust litt, und eine Amme damals in der Gegend etwas Ungewöhnliches war, wurde ich mit Kuhmilch aufgezogen.«
– Mein Leben –
»Freundliche Leute habe ich viele gefunden, aber Freunde sehr wenige.«
– Apokryphen –
Nicht jeder, der die Welt erfährt, lernt auch die Menschen kennen; und mancher, der zu Hause bleibt, hat Einblick in die Herzen. Seume war gleichzeitig ein guter und ein schlechter Menschenkenner. Es gelang ihm während seines ganzen Lebens unter allen Umständen – als Bauernjunge in der Stadtschule von Borna, als Soldat in Halifax, Emden und Warschau, als Grafenerzieher, Lektor und Schriftsteller und sogar noch als Sterbender in Teplitz – Leute zu gewinnen, die sich seiner annahmen. Er war nicht allein in der Welt – und doch hoffnungslos einsam. Denn das Spiel, das in dieser Welt gespielt wurde, verstand er nicht und wollte es nicht verstehen. Er fand viele Väter, nachdem der seine früh gestorben war, wurde aber selber keiner. Die Anhänglichkeit an die Mutter war eine Konstante, obgleich es eine Anhänglichkeit auf Distanz gewesen ist, ganz ähnlich wie seine Freundschaft mit Münchhausen eine aus der Ferne blieb. Auch den Mädchen kam er nicht nah. Es scheint, als habe er sich mit unbewusster Absicht so verliebt, dass mit einer ehelichen Institutionalisierung des Gefühls nicht ernsthaft gerechnet werden konnte (und musste). Sein Bildungsgang hatte ihn aus der Herkunftsfamilie in die große, sogenannte weite Welt gestoßen, und sein dennoch enger Lebensweg ließ für die Gründung einer eigenen Familie keinen Raum. Vielleicht ist Seume mit all seiner Welterfahrung menschlich gescheitert, jedenfalls
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